Wie war das Jahr?

Ich kann verstehen, wenn man beim Lesen dieser
Überschrift skeptisch die Augenbrauen hebt. Wie soll es schon gewesen sein, dieses 2020? Das Jahr, in dem fast alles, was man für normal hielt, plötzlich nicht mehr wahr war und vermeintliche Gewissheiten über den Haufen geworfen wurden?

Die Spannbreite der sozialen Abstände zwischen 1,50 Meter und der völligen Abschottung in Altenheimen findet vermutlich nur bei Autisten Zustimmung. Alle anderen dürften ein Problem damit haben, sich nicht mit den ihnen wichtigen Menschen zu treffen, geschweige denn sie zu umarmen. Die Aufregung über das Für und Wider des Mundschutztragens war für mich unverständlich. Es ist lästig, aber nötig. 

Und dann war da noch die Sache mit dem Hamstern: Ich weiß von Leuten, die ihr Auto nicht mehr in der Garage abstellen konnten, weil es voller Klopapierpackungen, Dosenmahlzeiten und anderen lange haltbaren Produkten war. Ich kann mich in diese Menschen nicht hineinversetzen und werde mir auch keine Mühe geben, es zu versuchen.

Nach neun Monaten des Abstandhaltens hätten Verhaltensforscher wohl ihr helle Freude an mir: Als kürzlich ein Handwerker bei uns war, habe ich gespürt, dass ich mich mit einem Fremden im Haus unwohl gefühlt habe. Als er gegangen war, wurde alles, was er angefasst hatte, mit Desinfektionsspray eingenebelt. Noch im Februar hätte ich jeden mit einem solchen Verhalten in die Phobiker-Ecke gestellt.

Unsere Sozialkontakte, also so richtige persönliche Treffen, sind auf ein Minimum geschrumpft. Es ist ein bisschen wie mit einem fetten Regenwurm, der sich an einem heißen Tag auf eine schattenlose Fläche verirrt hat und am nächsten Tag zu einem trockenen Strich zusammengeschrumpft ist. So gut wie jedes Zusammentreffen findet unter freiem Himmel statt, das hat auch vor den Weihnachtstagen nicht halt gemacht. Der geschmückte Baum stand neben dem gedeckten Tisch, gegen die frischen Temperaturen halfen Heizstrahler und warme Decken. Das klappte etliche Stunden, nur die Füße hatten sich irgendwann temperaturtechnisch vom Rest des Körpers abgekoppelt.

Ich glaube, ich bin schon seit Jahrzehnten nicht mehr so viel mit dem Fahrrad gefahren wie in diesem Jahr. Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass ich wegen Covid-19 die öffentlichen Verkehrsmittel meiden wollte. Das tue ich sowieso, weil mir die Situation beim Ein- und Aussteigen Schwierigkeiten macht. Nein, der Grund sind die gefühlt 1.000 Baustellen um uns herum. Das Auto mutiert hier regelmäßig von einem Fahr- zu einem Stehzeug und ich merke, dass das ewige Stop-and-Go-Fahren sowie das ständige Rätselraten, wie man denn jetzt nur wieder an den Baustellenabsperrungen vorbei kommt, meinem Nervenkostüm nicht guttut. Wahrscheinlich sind die Baustellen ein Beitrag zu Verkehrswende und ich habe es einfach noch nicht begriffen. Mit meiner Geduld ist es auch unter Normalbedingungen nicht weit her, also entscheide ich mich seit Monaten ganz überwiegend für das Fahrrad und gegen das Auto. Noch vor einem knappen Jahr wäre es mir nie in den Sinn gekommen, eine Besorgung mit einem einfachen Fahrtweg von 15 Kilometern mit dem Rad zu machen. 30 Kilometer Fahrradfahren, wenn es doch mit dem Auto sooo viel schneller geht? Das hätte ich völlig abwegig gefunden. Der Haken an der Sache: Ich werde immer mehr zu einer Expertin für Hannovers schlechte Radwege und weiß mittlerweile, wo ich mit meinem Dreirad fahren kann - oder wo es eben nicht geht, weil dort Drängelgitter zu eng stehen oder die Fahrbahn so marode ist, dass eines der drei Räder auf jeden Fall das herannahende Schlagloch trifft.

Was ist noch passiert? Über unsere verstorbenen Nachbarn hatte ich schon geschrieben. Beide sind nicht an Covid-19 gestorben, aber die Trauerfeier für unsere Nachbarin war von der Beschränkung der Personenzahl geprägt. Für uns war es klar, dass wir daran teilnehmen wollten, aber der an der Kapellentür stehende Bestatter wies uns mit der Begründung zurück, dass der Raum bereits voll sei. Ein kurzer Blick durch die Tür ergab, dass höchstens die Hälfte der Sitzgelegenheiten belegt war. Das "neue Voll" sozusagen. Die Verwandten unseres Nachbarn hatten von vornherein darauf verzichtet, den Beerdigungstermin bekanntzugeben. So lässt sich das Problem natürlich auch lösen.
Besonders bedrückend war der Tod des Schwiegervaters meiner Freundin während der sog. "1. Welle". Er starb im Krankenhaus an einer Krebserkrankung, niemand aus seiner Familie durfte zu ihm. Sein Leben ging sediert und allein zu Ende.

Kürzlich habe ich mich mit zwei Frauen, die etwa in meinem Alter sind, über ihre Situation unterhalten. Ihre Kinder wohnen nicht mehr bei ihnen und sie leben allein. Der Abend ist die Tageszeit, die sie aktuell am schwersten finden. Niemanden treffen oder nirgendwohin gehen zu können, wo andere Menschen sind, belastet sie und schlägt ihnen aufs Gemüt. Die Einsamkeit in der Zeit der Pandemie gibt es nicht nur in den Altenheimen.

Ich kann die beiden Frauen gut verstehen, auch wenn ich nicht allein lebe. Aber mir fehlen, gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit, die Möglichkeiten, die das normale Leben bietet: Restaurant-, Kino- oder Theaterbesuche - nichts geht mehr. Aber ich versuche, meine Gedanken nicht zu sehr auf die negativen Dinge der Situation zu richten, sondern besonders die positiven zu sehen. 

Sehr positiv ist zum Beispiel das, was gerade bei uns zu Hause passiert: Mein Sohn baut den letzten Raum, den ich im Alltag benötige, so um, dass ich ihn problemlos dreibeinig nutzen kann. Für seinen Einsatz bin ich ihm wirklich dankbar.

Ebenfalls sehr positiv waren die kurzzeitigen Möglichkeiten, unterwegs zu sein. Ende Januar fand die Internationale Lichtkunst-Biennale in Hildesheim statt, im Februar haben wir die Ausstellung DEIX im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover besucht. Dieser Artikel war auch der Einstieg in meine Serie "Es gibt ein Leben nach Corona", die euch nach Dessau, Leipzig (https://dastaeglichegruseln.blogspot.com/2020/03/es-gibt-ein-leben-nach-corona-teil-3.html

2021 wird ein besseres Jahr. Bestimmt. Geht gar nicht anders. Mit diesem Song lässt sich 2020 sehr schön musikalisch der Mittelfinger zeigen:


Macht's gut bis nächstes Jahr!

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