Am 28. Juni ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
(BFSG) in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz wurde eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2019 in deutsches Recht umgesetzt. Es soll Menschen mit Behinderung endlich ermöglicht werden, gleichberechtigt am Wirtschaftsleben teilzunehmen - sowohl online als auch persönlich vor Ort. Wenn man sich daran erinnert, dass Deutschlands Beitritt zur UN-Behindertenrechtskonvention schon sechzehn Jahre her ist, kann man durchaus sagen: Das wurde auch Zeit.
Ein Gesetzgebungsverfahren hat einen gewissen Vorlauf. Zwischen dem ersten Schritt, der Erstellung eines Referentenentwurfs, und dem letzten, der Verabschiedung im Bundestag, lag in diesem Fall etwas mehr als ein halbes Jahr. Dieser letzte Schritt erfolgte am 22. Juli 2021, also vor knapp vier Jahren. Allen, die sich mit diesem Gesetz in irgendeiner Form beschäftigen mussten, war klar, wann das BFSG vollständig in Kraft treten würde: heute vor sechs Tagen.
Was braucht man, damit so ein Gesetz wie das BFSG angewendet werden kann?
Man benötigt natürlich Personal, das sich um Beschwerden kümmert, die Aufsicht ausübt und wenn nötig Bußgelder verhängt. Die Bußgelder betragen bei manchen Ordnungswidrigkeiten bis zu 10.000 Euro, bei anderen sogar bis zu 100.000 Euro.
Man braucht selbstverständlich auch geeignete Büroräume. Das BFSG legt fest, wer diese Aufgaben erfüllen soll: eine sogenannte Marktüberwachungsbehörde. Der Gesetzgeber hat bestimmt, dass diese Behörde von den Ländern eingerichtet und unterhalten werden soll. Damit nicht in jedem Bundesland eine eigene Marktüberwachungsbehörde installiert werden muss, haben sich die Länder darauf verständigt, in Magdeburg eine zentrale Behörde für ganz Deutschland ins Leben zu rufen. Um diese Absprache rechtlich abzusichern, mussten die Vertreter der Länder einen Staatsvertrag unterzeichnen und in einem eigenen Landesgesetz ratifizieren. Wenn das alle gemacht haben, dann kann es losgehen. Ab dann haben die behinderten Menschen einen Ansprechpartner, wenn sie sich zum Beispiel bei Bestellungen im Internet, bei Behördengängen oder dem Einkauf im Supermarkt wegen mangelnder Barrierefreiheit benachteiligt fühlen.
Das Problem ist das Wort "Wenn" zwei Sätze über diesem Satz. Am 27. Juni, einen Tag vor dem vollständigen Inkrafttreten des BFSG, las ich im Handelsblatt diese Überschrift: "Kaum eine Website ist barrierefrei - trotz gesetzlicher Pflicht". Und darunter: "Barrierefreiheit ist nun Vorschrift. Doch eine Analyse von 60 wichtigen Websites zeigt: Gerade mal drei halten die Vorgaben weitgehend ein. Es drohen Strafen und Abmahnungen."
Eine Software-Firma, die barrierefreie Websites erstellt, hat im Auftrag des Handelsblatts mithilfe eines 100-Punkte-Katalogs ermittelt, welche Unternehmenswebsites zumindest halbwegs barrierefrei sind und welche nicht. Es wurden nur diejenigen 60 Internetseiten untersucht, die besonders oft aufgerufen werden. Die Tester inspizierten jeweils die Homepage sowie die ersten 100 erreichbaren Unterseiten anhand von 125 Kriterien. Als "Sieger" gingen Mercedes mit 85 Punkten, Doc Morris mit 81 Punkten und die Deutsche Telekom mit 80 Punkten hervor. Der Durchschnitt lag bei 50 erreichten Punkten.
Ich finde das absolut armselig. Wir reden hier nicht über Klitschen in Hintertupfingen, die gerade so über die Runden kommen. Wir reden über 60 große Unternehmen, für die die Erstellung eines barrierefreien Internetangebots weder finanziell noch personell ein Problem ist. Ausgerechnet das Unternehmen, bei dem die meisten Internetnutzer irgendwann mal etwas bestellt haben, weil es so schön bequem ist, könnte den Ignoranz-Preis bekommen, wenn es ihn gäbe: Amazon hat es mit seiner Internetpräsenz auf lächerliche 27 Punkte gebracht. Oder anders ausgedrückt: Dort zu bestellen ist nur für die Menschen bequem, die keine Einschränkungen haben. Wer einen Grund braucht, diesen Saftladen zu boykottieren: Hier ist er. "Nur knapp besser sind Tui, Samsung, Comdirect und BMW", schreibt das Handelsblatt abschließend.
Sanktionen gegen Konzerne kein Problem?
Das könnte man meinen, denn da ist ja diese Marktüberwachungsbehörde. Die greift da sicher ein und tut, wozu sie da ist. Doch am 29. Juni, einen Tag nach dem Inkrafttreten des Gesetzes, las ich in der "ZDFheute"-App diese Meldung: "Barrierefreiheit: Bundesweite Behörde kommt später". Danach verzögert sich die Einrichtung der Behörde, weil noch nicht alle Bundesländer den Staatsvertrag ratifiziert haben. "Bislang sei auch noch keine abschließende Entscheidung über ein Gebäude getroffen worden", heißt es in der kurzen Meldung weiter.
Die Länder, die bis zum Vortag des Inkrafttretens immer noch nicht zu Potte gekommen sind und es nicht geschafft haben, den Staatsvertrag in ein gültiges Landesgesetz zu überführen, sind Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. In Hessen wird dies sogar erst nach der parlamentarischen Sommerpause passieren, also nach dem 17. August. Deutlicher kann man kaum sagen: "Das Anliegen ist uns wurscht." Dass man immer noch überlegt, wo man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde unterbringen soll, ist ein Armutszeugnis.
Da vergehen vier Jahre, und es ist nichts vorbereitet, um den Anspruch von behinderten Menschen, problemlos am Bezug von Waren und Dienstleistungen teilzunehmen, durchzusetzen. Was zum Kuckuck hat man in den oben genannten Bundesländern die ganze Zeit gemacht?
Quelle Foto: Foto von form PxHere
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