Schwarz-roter Koalitionsvertrag - Ein großer Wurf für die Inklusion?

Seit heute können wir uns den Entwurf des
Koalitionsvertrags der Union und der SPD ansehen, zum Beispiel hier. Ich habe den Text überflogen und mir insbesondere angesehen, was nach den wochenlangen Verhandlungen zu den Schlagworten Barrierefreiheit und Inklusion zu finden ist. Hier ein kurzer Überblick:

  • Mehr Inklusion bei der Schul- und Berufsausbildung, 
  • kulturelle Teilhabe durch Abbau von Barrieren, 
  • bessere Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs, 
  • mehr barrierefreier oder -armer Wohnraum -  der hier als "generationengerecht" bezeichnet wird - insbesondere für ältere Menschen. Was sich dahinter verbirgt, kann nur abgewartet werden.

Immer dieselbe Leier: "Wir kümmern uns um die Behindertenrechtskonvention"

Unter der Überschrift UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen finden sich diese Sätze:
"Gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen werden wir den Nationalen Aktionsplan weiterentwickeln. Wichtige Etappenziele sind mehr Teilhabe, Selbstbestimmung und Barrierefreiheit im Alltag. Der leichtere Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln, Informationen und Kommunikation sowie zu Einrichtungen und Diensten ist unabdingbar."
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurde 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet, trat 2008 in Kraft und wurde 2009 von Deutschland sowie 2010 von der EU ratifiziert. Seit 2009 reißen die Beteuerungen aus der Politik, die UN-BRK umzusetzen, nicht ab. Sechzehn Jahre später ist die Situation keine andere. Aber nach wie vor tut die Politik so, als sei die -zig Mal wiederholte Aussage, man wolle nun die UN-BRK umsetzen, etwas Funkelnagelneues und der große Wurf. Aber nein: Die Wiederholung desselben Inhalts ist nur ein Beleg dafür, dass es nicht voran geht. Nichts, worauf die Politik stolz sein könnte.

Digitale Barrierefreiheit

An einer anderen Stelle des Koalitionsvertrags findet sich unter der Überschrift Barrierefreiheit im Netz diese Formulierung:
"Die Digitalisierung bietet eine Vielzahl von Chancen für Menschen mit Einschränkungen. Wir prüfen daher, ob durch ein Prüfsiegel „Barrierefreie Website“ für Verwaltung und Wirtschaft die Gleichstellung behinderter Menschen unterstützt werden kann." 
Es mag für die Koalitionäre eine Überraschung sein, aber die öffentliche Verwaltung muss bereits seit September 2020 ihre Internetauftritte barrierefrei gestaltet haben. Ich kann so ein Prüfsiegel, mit dem sich öffentliche Stellen also de facto bescheinigen, sich an rechtliche Vorgaben zu halten, nur als schlechten Witz empfinden. 
Ist ein Prüfsiegel möglicherweise für die Internetangebote von Unternehmen ein guter Vorschlag? Die Absurdität dieser Idee ist auf einem ähnlichen Level wie bei der öffentlichen Verwaltung: Der Großteil der von Firmen bereitgestellten Angebote muss gem. Barrierefreiheitsstärkungsgesetz spätestens zum 25. Juni 2025 barrierefrei sein - also sehr bald. Ausnahmen gibt es zum Beispiel für B2B-Geschäfte oder Kleinunternehmer.
Mein - wahrscheinlich unpopulärer - Vorschlag: ein Prüfsiegel für alle Behörden und Unternehmen, die es trotz jahrelangem Vorlauf noch immer nicht geschafft haben, ihre Internetauftritte barrierefrei zu konzipieren. Vielleicht würde die Abbildung dieser Peinlichkeit auf einem Siegel die Vorgänge beschleunigen.

Auch künftig kaum möglich: Erreichbarkeit von Arztpraxen

Und dann ist da noch die Sache mit der barrierefreien Erreichbarkeit von Arztpraxen. Jeder Mensch, ob behindert oder nicht, ist darauf angewiesen, im Krankheitsfall und für Vorsorgeuntersuchungen Arztpraxen aufsuchen zu können. Das gilt allerdings nicht für Menschen mit körperlichen Behinderungen: Schon 2020 zeigte die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Partei 'Die Linke', dass zwei Drittel der Arztpraxen in Deutschland über kein Merkmal verfügen, das mit Barrierefreiheit verbunden wird: kein Behindertenparkplatz vor dem Eingang, kein Aufzug oder Treppenlift, keine breiten Türen etc. Die Problematik ploppt in öffentlichen Diskussionen immer mal wieder auf, aber niemand fühlt sich dazu berufen, das Kernproblem zu lösen. 
Man kann sich gut vorstellen, dass Ärzte und Ärztinnen, die eine Praxis übernehmen und sich dafür verschulden, nicht noch mehr Geld für Vorrichtungen ausgeben wollen, die zur Barrierefreiheit ihrer Räume beitragen. Solche Maßnahmen kosten Geld, das betriebswirtschaftlich nicht oder kaum zurückfließt. Der Staat fördert allerdings über die KfW Unternehmensgründungen und -übernahmen. Eine ausdrückliche Förderung der Barrierefreiheit gibt es allerdings nicht. Warum kann hier nicht ein Zuschuss zu solchen Maßnahmen gezahlt werden, um auch behinderten Menschen Arztbesuche zu ermöglichen? Der Koalitionsvertrag erwähnt dieses Thema mit keinem Wort. 

Aus eigener Anschauung weiß ich, was die Folgen dieser politischen Ignoranz sind. Nachdem in den letzten Jahren alle meine langjährigen Ärzte und Ärztinnen in den Ruhestand gegangen sind, musste ich für Ersatz sorgen. Ich habe eine ganze Weile telefoniert, um geeignete Praxen zu finden, die

1. überhaupt noch neue Patienten aufgenommen haben und
2. für mich erreichbar und betretbar waren.

Wenn ich mir den unambitionierten Inhalt des Koalitionsvertrags zur Inklusion ansehe, wird sich für die behinderten Menschen wenig bis nichts verbessern.


Quelle Foto: Thorben Wengert / pixelio.de

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