Digitale Barrierefreiheit: Bei den Kommunen gibt es Nachholbedarf

Beim Stichwort Barrierefreiheit fallen den meisten Menschen Rampen, Aufzüge oder Blindenleitsysteme ein. Doch nicht nur das Leben der Nicht-Behinderten ist digitaler geworden, sondern auch das der Behinderten.

Selbstverständlich möchten sich Behinderte im Internet informieren können, obwohl sie blind oder sehbehindert sind, Probleme mit der Hörfähigkeit oder kognitive Beeinträchtigungen haben. Auch an Menschen mit wenig Körperkraft, eingeschränkten manuellen Fähigkeiten oder fotosensorischer Epilepsie muss gedacht werden.

Das sah auch die EU so und verabschiedete im Oktober 2016 die Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen. Mit den "öffentlichen Stellen" sind zum Beispiel Kommunen gemeint. Heute hat jede Stadt- oder Gemeindeverwaltung ihren eigenen Internetauftritt. Nach den Vorgaben der EU-Richtlinie, die die Bundesländer in eigenen Behindertengleichstellungsgesetzen und Richtlinien umgesetzt haben, mussten deren Websites bis spätestens September 2020 barrierefrei gestaltet werden. Da stellt sich die Frage: Ist es für behinderte Bürgerinnen und Bürger knapp vier Jahre nach diesem Datum möglich, sich auf der Homepage des eigenen Wohnortes zurechtzufinden?

Das interessierte auch eine Gruppe behinderter Menschen, die bei der DasDies Service GmbH in Kamen beschäftigt sind. Die DasDies Service GmbH wird von der Arbeiterwohlfahrt Unna getragen und ähnelt in ihrer Zielsetzung den Hannoverschen Werkstätten in Hannover.
Zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollten wissen, wie barrierefrei die Startseiten der kommunalen Websites sind. Können sich dort Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen zurechtfinden? 

Das vom Inclusion Tech Lab technisch unterstützte Vorhaben war sehr ambitioniert: In Deutschland gibt es rd. 11.000 Städte und Gemeinden. Das Test-Team hatte sich vorgenommen, jede einzelne Homepage unter die Lupe zu nehmen. Das Anliegen der Gruppe wurde von der Aktion Mensch unterstützt. Das Problem: Es gibt kein Gesamtverzeichnis, aus dem alle deutschen Kommunen hervorgehen. Auf die zehn Frauen und Männer wartete also schon in der Vorbereitung eine Sisyphosaufgabe.

Für den Homepage-Test hatten die DasDies-Beschäftigten fünf Kriterien erarbeitet:

  • Lässt sich die Schriftgröße ändern?
  • Hat die Seite eine Vorlesefunktion?
  • Wird Leichte Sprache angeboten?
  • Wird das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt?
  • Ist es möglich, in wenigen Minuten herauszufinden, wo man einen Termin für die Verlängerung des Personalausweises vereinbaren kann?

Das Ergebnis: Barrierefreiheit dürftig

Pro erfülltem Kriterium wurde ein Punkt vergeben. Eine kommunale Internetseite konnte also höchstens fünf Punkte erreichen. Das Ergebnis: zwischen ernüchternd und armselig. Nur drei (!) Prozent der Kommunen schaffte die volle Punktzahl, sieben Prozent der Homepages erhielten schlanke null (!) Punkte. Das bedeutet: In etwa 770 Kommunen kann deren digitales Angebot von ihren behinderten Bürgerinnen und Bürgern nicht genutzt werden. Deutschlandweit wurde ein Durchschnittswert von mageren 1,87 Punkten ermittelt.

Betrachtet man die Ergebnisse auf Länderebene, ist Thüringen mit durchschnittlich 1,53 von fünf Punkten auf dem letzten Platz. Danach folgt mit 1,59 Punkten Sachsen. Den drittschlechtesten Platz nimmt Bayern mit 1,64 Punkten ein. Am besten schnitten Hamburg und Bremen drei Punkten ab; "mein" Bundesland Niedersachsen findet sich bei deutlich ausbaufähigen 1,86 Punkten wieder.

Und welche Städte liegen mit der vollen Punktzahl ganz vorn? Beispielhaft seien hier Aschaffenburg in Bayern, Brandenburg an der Havel in Brandenburg, Offenbach in Hessen, Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern, Bielefeld in Nordrhein-Westfalen, Trier in Rheinland-Pfalz oder Lübeck in Schleswig-Holstein genannt. 
Am anderen Ende der Fahnenstange landeten zum Beispiel Olpe (NRW), Wittmund (Niedersachsen) oder Kulmbach (Bayern).

Seit dem 27. Juni 2024 kann der vom DasDies-Testteam erstellte Atlas digitale Barrierefreiheit eingesehen werden. Da möchte ich natürlich auch wissen, wie es vor meiner eigenen Haustür aussieht. Wie beurteilte das Testteam die Homepages meines Wohnortes und der Nachbarkommunen? Zur Region Hannover gehören 21 Kommunen. Überraschend: Diejenige mit den wenigsten Einwohnern erhielt die beste Bewertung. Eine andere kleine Kommune bekam nur einen Punkt, siebzehn schafften lediglich zwei Punkte - darunter auch die, in der ich lebe. Kann man damit zufrieden sein? Diese Frage sollte man sich in den Rathäusern ernsthaft stellen. 

Und was ist mit der technischen Überprüfung der Barrierefreiheit?

Man muss es deutlich sagen: Der Regelfall ist, dass Websites von einem Computerprogramm und nicht von Menschen auf ihre Barrierefreiheit untersucht werden. So gut wie nie macht sich jemand die Mühe, die Zielgruppe der behinderten Menschen direkt zu fragen, welche Bedürfnisse sie hat. Das trifft nach meiner Erfahrung jedoch nicht nur auf die digitale Barrierefreiheit, sondern auf alle Lebensbereiche, in denen Barrierefreiheit eine Rolle spielt, zu.

Um das Bild abzurunden, haben sich die Testerinnen und Tester auch angesehen, zu welchen Ergebnissen eine technische Überprüfung kommen würde. Sie benutzten hierfür das Open-Source-Tool "Lighthouse". Tatsächlich spiegeln sich die Ergebnisse des technischen nicht in denen des persönlichen Test wider. Völlig zu Recht sagt Raimund Schmolze-Krahn, Vorstand von Inclusion Tech Lab: "Häufig wird digitale Barrierefreiheit nur nach technischen Kriterien getestet, mit dem echten Erleben hat das nichts zu tun." Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen.


Foto: Cristine Lietz  / pixelio.de 

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