Ersatzkinder: okay oder unmöglich?

Vor ungefähr einem Jahr habe ich das Buch Der
Platz
 der Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux gelesen. Darin geht es in erster Linie um die Arbeit ihrer Eltern, die viel Mühe in den eigenen sozialen Aufstieg und den ihrer Tochter gesteckt haben. Aber als ob es sich nur um einen Nebenschauplatz handeln würde, taucht in diesem Buch quasi nebenbei das Wort "Ersatzkind" auf. In ihrem Buch Das andere Mädchen widmet sie sich hingegen ausführlich ihrer Schwester, die zwei Jahre vor Ernaux' Geburt an Diphtherie gestorben ist.

Ein Ersatzkind wird geboren, um an die Stelle eines verstorbenen Kindes zu treten. Als ich das las, erinnerte ich mich an etwas, das mir jemand erzählt hatte, den ich schon seit über fünfzig Jahren kenne. Wir hatten vor unserer Einschulung gemeinsam Stunden bei einem Physiotherapeuten, und ich glaube, er hat diese Zeit in der dunklen Kellerpraxis zwischen Gymnastikmatten und Sprossenwänden genauso gehasst wie ich. In der weiterführenden Schule waren wir in derselben Klasse und haben gemeinsam Abitur gemacht.

Erst vor wenigen Jahren, als wir uns schon seit mehr als vier Jahrzehnten kannten, erzählte er mir, warum zwischen ihm und seiner Schwester vierzehn Jahre Altersunterschied liegen: Er ist ein Ersatzkind. Die jüngste Schwester hatte mit drei Jahren eine Meningitiserkrankung nicht überlebt. Vor allem seine Mutter konnte den Tod ihres Kindes nicht verwinden und hat auf den Rat ihres Frauenarztes gehört: "Sie werden wieder glücklich, wenn Sie noch ein Kind zur Welt bringen." 

Aus heutiger Sicht wäre es für die Mutter sicher besser gewesen, sich einem Psychotherapeuten anzuvertrauen. Aber gegen alles, was mit "Psycho" begann, hatte man in den 1960-er Jahren große Vorbehalte. Wer zu so jemandem ging, musste einen an der Waffel haben, war die landläufige Meinung. Andere Zeiten, andere Vorurteile.

Mein ehemaliger Mitschüler ist mit dem Foto der unbekannten toten Schwester auf der Anrichte und den Erzählungen, was für ein tolles Kind sie war, aufgewachsen. Ich weiß nicht, wann er erfahren hat, dass er gezeugt wurde, um gewissermaßen für die Schwester einzuspringen. Aber mir ist immer aufgefallen, dass Mutter und Sohn ein distanziertes Verhältnis zueinander hatten. 

Die Mutter lebt schon seit einigen Jahren nicht mehr. Mein Mitschüler hat sich bis zum Ende ihres Lebens in einer Weise um die in ihren letzten Jahren demente Frau gekümmert, über die man sagen kann: Er hat sie nicht im Stich gelassen und das getan, was zu ihrer Versorgung nötig war. Ich habe nicht wahrgenommen, dass er zu seiner Mutter eine enge emotionale Bindung hatte.

Die Ansicht, ein Kind durch ein anderes ersetzen zu können, ist absurd. Auch ein junges Kind hat eine eigene Persönlichkeit, die das Ersatzkind nicht haben kann und wird. Vom unterschiedlichen Aussehen der beiden Geschwister muss man da gar nicht erst anfangen. Aber was löst das in einem Menschen aus, wenn er erfährt, dass er nicht um seiner selbst willen geboren wurde und es ihn ohne den Tod des Geschwisterkindes nicht gegeben hätte? Ich kann mir gut vorstellen, dass sich ein Ersatzkind wie er immer fragt: Werde ich von meinen Eltern so geliebt wie andere Kinder von ihren, oder nur deshalb, weil ich für meinen toten Bruder oder meine verstorbene Schwester eingesprungen bin?

Mich hat die Erzählung meines Mitschülers betroffen und traurig gemacht. Ein Trost ist jedoch, dass es statistisch gesehen weniger Ersatzkinder geben wird, weil die Kindersterblichkeit in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich abgenommen hat: Mitte/Ende der 1960-er Jahre verstarben 27 von 1.000 Kindern bis zu ihrem fünften Geburtstag, heute sind es nur noch knapp unter 4 von 1.000.

Trotz dieser positiven Entwicklung ist klar: Jedes tote Kind ist eines zu viel, jedes als Ersatzkind geborene aber auch.


Quelle Foto: annamartha / pixelio.de

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