"Schau nach Indien"

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Sechs Monate ist es her, dass ich hier einen Text veröffentlicht habe. Es ist nicht so, dass es in dieser Zeit keine Themen gegeben hätte, über die ich hätte schreiben können, aber die Menge an negativen Eindrücken hat mich ausgebremst. Wird es jetzt wieder besser? Ich kann es nur abwarten. Schlechte Nachrichten gibt es reichlich; was auf uns alle zukommt, ist ungewiss.

Das hier soll ja in erster Linie ein Blog sein, der sich mit dem beschäftigt, was ich als Mensch mit Behinderung in meinem Alltag erlebe (oder andere mit mir). Wieder mal sinkende Inzidenzen und das gute Wetter bedeuten: mehr Kontakte. Was teilweise über Monate nicht möglich war, geht nun wieder. Die Möglichkeit, mich draußen mit Freunden zu treffen, nutze ich. So war ich kürzlich mit einer Gruppe von Frauen auf der Terrasse eines Restaurants in meiner Nähe. Wir hatten uns schon lange nicht mehr gesehen, zu erzählen gab es genug.

Meine Tischnachbarin berichtete mir, wie ökologisch sie und ihr Mann leben. Alle Strecken im Umkreis legen die beiden mit dem Fahrrad zurück, das Auto wird nur noch als Lastenfahrzeug für sperrige oder schwere Gegenstände benutzt. Und wenn es zu einem weiter entfernteren Ziel geht, wird der Weg mit der Bahn zurückgelegt. Über ihre letzten Flugreisen verlor sie an diesem Abend kein Wort, aber aus einem länger zurückliegenden Gespräch weiß ich, dass sie diese mit einer CO2-Kompensation ausgleicht. Ablasshandel also.

Erwartungsvoll sah sie mich an. War es aus ihrer Sicht nicht sehr wahrscheinlich, dass ich viele Wege mit dem Auto zurücklege, weil das Gehen nicht mein Ding ist? Na ja, zum Teil stimmt das. Die Wege im Alltag lege ich fast komplett per Fahrrad zurück. Aber für den regelmäßigen Besuch einer Angehörigen in einem Pflegeheim nehmen wir tatsächlich das Auto: Die damalige Deutsche Bundesbahn hat den Bahnhof der Kleinstadt Anfang der 1970-er Jahre stillgelegt. Die Gleise sind noch da, am ehemaligen Bahnhof halten jetzt Linienbusse. Die Fahrt mit Bahn und Bussen von meinem Wohnort dorthin gleicht einem Abenteuer: Je nach Verbindung muss man drei bis vier Mal umsteigen, dazu kommt ein Fußweg von mehr als eineinhalb Kilometern.

Ich hörte mir von meiner Tischnachbarin an, wie unproblematisch man in Deutschland mit der Bahn fahren könne. Tatsächlich? Gab es in einem Paralleluniversum noch ein weiteres Deutschland? Eines, in dem die Aufzüge funktionierten, die Züge barrierefrei sind, an den Behinderten-WCs nicht ständig "Gesperrt"-Schilder kleben und die Wagenstandsanzeiger das tun, was ihr Name sagt?
Ich erzählte ihr, dass meine Erfahrungen mit Bahnreisen mich endlos viele Nerven gekostet und zum Teil auch in gefährliche Situationen gebracht haben. Jedes Mal wäre ich ohne die Hilfe meiner Begleitperson aufgeschmissen gewesen. Um ihr das klar zu machen, sprach ich über einige Erlebnisse (zum Nachlesen zum Beispiel 
Unterwegs mit der Bahn oder: Die Hoffnung stirbt zuletzt oder Eine dreibeinige Reise: Hannover - Birmingham via Hamburg).

Nachdenklich sah mich meine Tischnachbarin an. Dann sagte sie: "Aber findest du nicht, dass das Bahnfahren hier viel besser ist als in Indien?" 
"In Indien?" Worauf wollte sie hinaus?
"Na ja, bei der indischen Bahn gibt es praktisch keine Barrierefreiheit. Die Züge sind überfüllt und haben keinen festen Fahrplan. Dagegen ist es hier doch sehr gut!"

Ja, genau. Warum nicht gleich Länder ganz ohne Eisenbahnen wie Guinea-Bissau für einen Vergleich heranziehen? Was nicht da ist, kann auch nicht schlecht sein, oder?
"Hör mal, Indien ist ein Schwellenland. Wie sinnvoll ist so ein Vergleich?" Sich an Verhältnissen zu orientieren, die schlechter sind als die eigenen, hat noch niemanden weitergebracht. "Ich möchte mich an der Schweiz orientieren. Dort wird die Barrierefreiheit der Züge und Bahnhöfe ständig verbessert. Es gibt tatsächlich Züge mit einem stufenlosen Einstieg!", stellte ich klar.

Ich finde so eine Aufforderung zur Bescheidenheit an eine Menschengruppe, die ständig von Einschränkungen betroffen ist, sehr seltsam. Würde sie das genauso sehen, wenn sie selbst nicht mehr mobil ist? 



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