Wieder ein Welttag


Der Tag, um den es heute geht und der jedes Jahr am 3. Dezember als Aktions- und Gedenktag begangen wird, ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Er wurde von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen.

Die Vereinten Nationen waren es auch, die die Jahre 1983 bis 1993 als Jahrzehnt der behinderten Menschen ausgerufen hatten. 1983 war ich 17, hätte das also mitbekommen müssen, weil ich ziemlich regelmäßig Zeitung gelesen habe. Ich scheine die Ausgaben, in denen etwas darüber stand, ausgelassen zu haben. Gemerkt habe ich davon nämlich weder mit 17 noch zehn Jahre später mit 27 etwas. 

Unsortierte Gedanken zum Welttag 

Ich habe nicht nur angesichts dieses Welttags Wünsche. Immer wieder habe ich hier auf diesem Blog darüber geschrieben, wo ich im Alltag wegen meiner Behinderung Probleme hatte oder woran ich sogar gescheitert bin. Die meisten dieser Schwierigkeiten waren und sind absolut vermeidbar. Meine Erwartungen schätze ich dabei nicht als übertrieben hoch ein. Es geht mir schlicht darum, an stinknormalen Dingen, die das Leben ausmachen, teilnehmen zu können. Und diese Teilnahme soll möglich sein, ohne dass mich jemand begleiten muss, um mich gegebenenfalls zu unterstützen.

Das soziale Netzwerk mit dem kleinen Vogel ist seit einiger Zeit voll von Posts, in denen Menschen beschreiben, welche Hürden sie überwinden mussten, um mit der Deutschen Bahn ihr Ziel zu erreichen. Defekte Behinderten-WCs, defekte Einstiegshilfen - Hublifte gibt es nur an sieben Bahnhöfen -, defekte Zugtüren und Fahrstühle... Ständig ist irgendetwas defekt. Dazu Durchsagen am Bahnsteig, die aktuelle Verzögerung erkläre sich dadurch, dass ein behinderter Fahrgast in den Zug ein- oder aussteigen wolle: Nein, diese Verzögerungen entstehen, weil die Deutsche Bahn nicht gut genug funktioniert. Auch kurzfristige Absagen der von der Mobilitätsservice-Zentrale der DB zugesagten Unterstützung sind an der Tagesordnung. Die Beschwerden reißen nicht ab und lassen nur den Schluss zu: Behinderten Bahnkunden wird eine Menge zugemutet. 

Zuletzt sorgte die Ankündigung der DB Regio AG, für den Betrieb in Schleswig-Holstein 18 neue Züge anzuschaffen, die nicht barrierefrei sind, für Aufregung. Man kann sich fragen, warum es der Schweiz gelingt, bis 2024 die barrierefreie Nutzung der SBB zu erreichen, hier in Deutschland aber ständig über bauliche und/oder technische Probleme diskutiert wird, die eine Barrierefreiheit verhindern.

Ich habe in der Vergangenheit auch erlebt, dass der Denkmalschutz als wichtiger erachtet wurde als die Barrierefreiheit. In einer hannoverschen Behörde, in der ich mal gearbeitet habe, hat man sogar so etwas Banales wie die Montage eines Handlaufs an der Außentreppe vor dem Haupteingang verweigert: Das Gebäude sei doch immerhin von Baumeister Laves errichtet worden und da könne man doch nicht einfach... Der Handlauf ist irgendwann dann doch angebracht worden. Da hatte ich die Behörde wegen dieser und anderer Nickeligkeiten aber schon verlassen.

Ist Behinderung eine Schande?

Im Oktober des letzten Jahres hatte ich hier über ein Gespräch mit Yujin Lee, einer Mitarbeiterin einer koreanischen Stiftung, der es um den kulturellen Austausch geht, geschrieben. Sie erzählte, dass Menschen in Südkorea in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht präsent sind. Wahrscheinlich liegt es nicht nur daran, dass Wege, Straßen, Bahnhöfe etc. nicht barrierefrei gestaltet sind: Noch heute empfinden es viele koreanische Familien als Schande, einen behinderten Menschen in ihrer Familie zu haben.

Erst vor wenigen Tagen hatte ich von meinem Aufenthalt in Lissabon erzählt. Eine Leserin hat daraufhin in einem sozialen Netzwerk kommentiert, sie habe in anderen südeuropäischen Ländern Ähnliches erlebt. Ich bislang nicht. Ich kenne beispielsweise Madrid, die andalusischen Städte, Palma de Mallorca, Cordoba oder das süditalienische Lecce. Nirgends war es für mich so schwierig wie in Lissabon, von einem Punkt zum anderen zu kommen.

Wir waren fünf Tage dort und haben in einem Hotel in der Innenstadt gewohnt. In dieser Zeit haben wir zwei Frauen mit einer Gehbehinderung und einen Mann in einem Elektrorollstuhl gesehen, aber keinen Menschen mit einer erkennbar geistigen Behinderung wie z. B. dem Down-Syndrom. Lissabon hat immerhin etwa 545.000 Einwohner und ist damit etwa so groß wie Hannover. Es ist davon auszugehen, dass die Behindertenquote ungefähr dem EU-Durchschnitt entspricht. Statistiken hierzu sind allerdings steinalt. Warum haben wir so gut wie keine behinderten Menschen gesehen? Man kann an dieser Stelle nur spekulieren.

Klar ist, dass der portugiesische Staat durch Sparmaßnahmen viele behinderte Menschen in Armut oder sogar extreme Armut gebracht hat. Wer arm ist, kann am sozialen Leben nicht oder nur sehr begrenzt teilnehmen. War das der Grund für die "Unsichtbarkeit"? 

Und nun?

Nach meinen Beobachtungen sind die Proteste der behinderten Menschen noch ziemlich am Anfang. Es gibt einzelne von ihnen, die mit ihren Aktivitäten wie Leuchttürme aus der großen Menge von in Deutschland immerhin 7,8 Millionen Behinderten herausragen (Stand: Ende 2017). Aber ich habe nicht wahrgenommen, dass es so etwas wie eine breitere Bewegung gibt, die deutlich verlangt, dass ihre Rechte durchgesetzt werden.

Als nicht Betroffener kann man sich natürlich gemütlich zurücklehnen und denken, das alles ginge einen doch gar nichts an. Viele können sich auch nicht vorstellen, durch einen Unfall, einen Schlaganfall oder eine neurologische Erkrankung plötzlich einer von den 7,8 Millionen zu sein. Aber je älter man wird, desto mehr dieser Fälle passieren in der eigenen Umgebung. Von einem Moment auf den anderen ist nichts mehr so, wie es vorher war.
Wer das nicht glauben mag, sollte sich vor Augen führen, dass die 7,8 Millionen Schwerbehinderten einem Bevölkerungsanteil von 9,4 % entsprechen. Unter den über 64-Jährigen liegt die Schwerbehindertenquote dann schon bei 25 %. Da steigt die Wahrscheinlichkeit, dazuzugehören, spürbar an. 

Ich bin gespannt, ob ich am nächsten Welttag der behinderten Menschen über eine positive Entwicklung schreiben kann. Vielleicht kann ich diesen Text auch einfach noch mal posten. Und 2021 gleich noch mal. Mal sehen. Wir lesen uns.

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