Kaum sind 30 Jahre vorbei...

Habt ihr das Foto meines Textes von gestern gesehen? Es ist der obere Rand eines Steuerbescheides zu sehen, man kann die Adresse des Finanzamtes erkennen.

'64283 Darmstadt' steht dort, und darunter
'Soderstr. 30'. Das Foto stammt aus einer Bilddatenbank, hat mit mir persönlich also nichts zu tun. Aber dieser Zufall, ausgerechnet auf dieses Foto zu stoßen, hat mich 27 Jahre in die Vergangenheit katapultiert.

Genau in dieser Straße habe ich bis 1992 gewohnt. In einem Eckhaus in der Soderstraße 52 / Ecke Wienerstraße. Die Wohnung war günstig und lag fußläufig zur Innenstadt. Mehr Positives will mir zu ihr nicht einfallen. Was ich dort erlebt habe, könnt ihr hier nachlesen.

Was mich so überrascht hat, war die Tatsache, dass sich heute nur wenige Meter von meiner damaligen Wohnung entfernt ein Finanzamt befindet. Die ganze Gegend hat nach dem 2. Weltkrieg in Trümmern gelegen, in der Soderstraße standen danach die ersten neuen Wohnhäuser in Darmstadt. Das Haus Nr. 52 war eines davon. Kein Balkon, das Bad wurde mit einem Heizstrahler erwärmt, der Rest der 2-Zimmer-Wohnung von einem Ölofen, der von Hand mit einer Kanne befüllt werden musste. Um zum Duschen genug warmes Wasser zu haben, musste man eine Stunde vorher den Boiler im Bad anstellen. Das Äußere des Hauses spiegelte in seiner Eintönigkeit den mangelnden Komfort im Inneren wider. Hatte ich erwähnt, dass die Miete günstig war?

Das Leben plätschert ereignisarm dahin...

Nein, das tut es natürlich nicht! Aber könnt ihr euch vorstellen, dass ich im Hinterkopf die Vorstellung hatte, dass sich die Straße in den letzten fast 30 Jahren nicht verändert hat? Ich verstehe mich selbst nicht. Neugierig habe ich jetzt am Laptop einen Routenplaner geöffnet und mir die Gegend aus der Vogelperspektive angesehen. Dort, wo jetzt das Finanzamt steht, war damals eine Häuserzeile mit Mietwohnungen. Sie stand parallel zur Straße und ist so oder so ähnlich in vielen Städten anzutreffen.

Die Behörde gibt der früheren Wohnstraße mit ihrer Länge von etwa 90 Metern ein ganz neues Gesicht.
Auch "mein" Haus hat sich verändert: Es ist jetzt im Häuserhimmel. Es wurde abgerissen und durch ein neues Haus ersetzt. Mit Balkonen! 
Auch das Nachbarhaus von früher ist nicht mehr da. In der ganzen Straße sind viele der Nachkriegsgebäude modernen Häusern gewichen. Hätte man mich heute kommentarlos in der Soderstraße abgesetzt, hätte ich sicher eine Weile gebraucht, ehe ich gewusst hätte, wo ich bin.

Ich bin mithilfe des Routenplaners die ganze Straße "abgelaufen". Einen Kilometer vom Kapellplatz bis zur Heidenreichstraße. Und selbstverständlich habe ich noch viel mehr gesehen, was früher nicht da war. Genau wie in dem Ort bei Hannover, in dem ich seit meinem Wegzug aus Darmstadt wohne, ging auch dort die Zeit voran. Nur realisieren musste ich das erstmal.

 

Das, was ich nun mit meinem damaligen Wohnort erlebe, kann man auch auf Menschen übertragen. Ich habe mich selbst nicht nur einmal dabei erwischt, dass ich beim Wiedersehen mit einer Person, die ich jahrzentelang nicht mehr gesehen hatte, unwillkürlich davon ausgegangen war, dass sie noch so ist wie damals: albern oder ernst, saublöd oder richtig nett. Aber auch über Menschen geht die Zeit hinweg. Jeder einzelne erlebt Höhen und Tiefen, die ihn verändern. Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft bei nach sehr langer Zeit stattfindenden Treffen meine Bilder und Meinungen über eine Person von früher nach hinten zu schieben und mich neu auf sie einzulassen. Es gelingt mir nicht immer, aber nach und nach besser. Und alles ist im Fluss.

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