Der Kampf um den Dachboden

Zu meinen Freunden in einem der sozialen Netzwerke gehört M., eine Frau, die aus Deutschland stammt, aber jetzt in der Schweiz lebt. Aus dem, was sie ihren "Freunden" erzählt, weiß ich, dass sie Kinder hat. Heute las ich etwas von ihr, was mich gleich in die beginnenden 90-er Jahre zurückgeworfen hat. Aber der Reihe nach.

M. wohnt mit ihrer Familie in einem Mehrparteienhaus. In
der Wohnung gibt es keine Möglichkeit, eine Waschmaschine aufzustellen, also wird die Wäsche in der Gemeinschaftswaschküche gewaschen. Mit fast allem, was mit "Gemeinschafts..." beginnt, habe ich übrigens schlechte Erfahrungen gemacht. Aber weiter im Text.
Für die Benutzung der beiden Waschmaschinen und der Trockner gibt es eine Haus-Waschordnung, die jeder Wohnung ein exaktes Zeitfenster zuweist. M. hatte nun - wie das mit kleineren Kindern gefühlt fast ständig ist - einen großen Schmutzwäscheberg und hätte vier Tage auf "ihren" Waschtag warten müssen. Da niemand waschen wollte, hat sie eine der Maschinen gefüllt. Das konnte nicht konfliktfrei abgehen und tat es auch nicht. Die Siebzigjährige, allein lebende Nachbarin beschwerte sich bei ihr prompt über so viel Eigenmächtigkeit. Eine der anderen Maschinen als die gewohnte zu benutzen, kam ihr nicht in den Sinn.

Diese Geschichte, die bei M. noch etwas länger ist,
erinnerte mich fatal an eine Nachbarin, die in einer südhessischen Stadt in der Wohnung gegenüber unserer gelebt hat. Keiner im Haus konnte sie leiden, weil sie eine zänkische, alte Vettel war. Sorry, aber was wahr ist, muss wahr bleiben. Das Mietshaus war direkt nach dem Krieg gebaut worden; eine Waschmaschine aufzustellen, ging gerade noch, die Wäsche zu trocknen, nicht: Es gab weder einen Balkon noch einen Innenhof, in dem das möglich gewesen wäre. Aber das war formal gesehen kein Problem: Der Dachboden war fast ausschließlich zum Wäscheaufhängen vorgesehen. Im Haus gab es sechs Mietparteien, der Trockenboden wurde aber nur von der reizenden Frau Sch. und uns benutzt. Dort oben hing eine Trockenordnung - ohne eine schriftlich fixierte Ordnung für jeden Käse scheinen manche Leute nicht leben zu können. Diese Trockenordnung wies jeder einzelnen Wohnung einen festen Nutzungstag zu. Da der Raum sehr groß war und außerdem selten genutzt wurde, hatte diese Trockenordnung eher nostalgischen Charakter. Eine Erinnerung an das Jahr 1946 sozusagen. Aber 45 Jahre waren für Frau Sch. ein Dreck. 
Wer Ordnungen dieser Art richtig super findet: Ich gebe auf Nachfrage gern die Adresse raus. Dort kann man sich auch noch an der Schließordnung und der Hausordnung (damit war die Putzreihenfolge für den Hausflur und Vorkeller gemeint) aufgeilen. Ich habe bestimmt noch eine Ordnung vergessen, ist ja schon ein paar Tage her.


Beim ersten Versuch lief noch alles glatt. Unsere Wäsche hing meterweit von der von Frau Sch. entfernt. Alles bestens.
Beim zweiten Anlauf war die Seniorin kreativ geworden. Sie schien das Geräusch unserer schleudernden Waschmaschine gehört zu haben und hatte sich flugs daran gemacht, über den gesamten Dachboden feuchte BHs, Miederunterhosen und Unterhemden zu verteilen. Immer hübsch mit großen Abständen zwischen den einzelnen Teilen. Einmal mit den Augen gerollt, die fremden Wäschestücke etwas zusammengeschoben und fertig.
Dritter Wasch- und Trockentag. Jetzt hatte sie sich gewissermaßen warmgelaufen: Auf dem Trockenboden war keine einzige Leine mehr. Die Haken steckten beschäftigungslos in den Wänden. Vermutlich zum ersten Mal seit 1946. Mein Grollpegel stieg. Aber ich war damals ein friedlicherer - oder blöderer? - Mensch als heute und habe schnell im Laden um die Ecke eine neue Wäscheleine besorgt.
Wir nähern uns dem Finale, dem nun vierten Trockenversuch. Dachbodentür öffnen und irritiert gucken war eins: Frau Sch. hatte nun auch sämtliche Haken einen nach dem anderen aus den Mauern gefriemelt, und ich stand da mit 5 Kilo feuchter Wäsche. Mühsam habe ich das, was ich über in Mitteleuropa übliches Verhalten mal gelernt hatte, zusammengefegt, bin die eine Etage bis vor Frau Schs. Tür runtergegangen und habe bei ihr geklingelt. Diese Frau hat allen anderen fünf Parteien mit ihrem täglichen Gewetter das Leben schwer gemacht und sich reihum immer andere Opfer gesucht, die sie in den fragwürdigen Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellte. Nun war ich dran. Schon kurz nach meinem Klingeln öffnete sie ihre Wohnungstür einen Spaltbreit. 
"Was wollen Sie?", funkelte sie mich böse an. 
"Sie werden innerhalb der nächsten halben Stunde sämtliche Haken wieder eindrehen und alle Leinen befestigen. Wenn nicht, werden Sie mich kennenlernen. Und ich werde mich noch heute bei der Genossenschaft über Sie beschweren!" Unser Streit war sicher im ganzen Haus zu hören, eindeutig volltönender als Zimmerlautstärke. Ich habe mitbekommen, wie sich unter uns Wohnungstüren leise öffneten und wieder schlossen. 

Frau Sch. schlug mir buchstäblich die Tür vor der Nase zu. Als sie glaubte, dass niemand mehr im Hausflur ist, schlich sie sich nach oben und richtete den Trockenboden wieder her. Ich habe selten einen unangenehmeren Menschen erlebt als sie. Wie ich später erfuhr, ging sie oft mehrmals pro Woche zur Genossenschaft, um sich über ihre furchtbaren Nachbarn zu beschweren.

Eine Lehre habe ich leider auch aus dieser Zeit mitgenommen: Verlasse Dich nicht auf den Rückhalt Deiner Mitmenschen. Auch dann nicht, wenn Du weißt, dass sie Deiner Meinung sind. Als es in diesem Haus eine Gelegenheit gegeben hatte, Frau Sch. mit einer gemeinsamen Ansage in ihre Schranken zu verweisen, haben unsere Nachbarn buchstäblich den Rückweg in ihre Wohnungen angetreten  - um sich dann beim nächsten Zusammentreffen wieder über die Dame zu beklagen. Diese Sorte Menschen wird es wohl immer geben.

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