Neues aus der Nachbarschaft

Alle, die hier schon länger mitlesen, wissen, dass es da einen Nachbarn gibt, den ich nach einigen Jahren der Dauergenervtheit am liebsten nur aus der Ferne sehe. Ich habe ihm hier schon Beiträge "gewidmet". Aber um ihn soll es heute nicht gehen, sondern um einen, der direkt neben uns wohnt. Wir sind jetzt schon seit mehr als 20 Jahren Nachbarn und immer gut miteinander ausgekommen. Aber mir war nicht bewusst, dass er ein wirklich großes Problem mit dem körperlichen Eingeschränktsein hat.

Er ist mittlerweile über 90 und für dieses Alter noch sehr
© Viktor Schwabenland /pixelio.de
gut in Form. Im letzten Sommer konnte er noch auf eine Leiter steigen, um die Äste eines Baumes zu kürzen. Auch vom Autofahren konnte er nicht lassen. Doch dann hatte er plötzlich massive Rückenbeschwerden, die so heftig waren, dass er sich kaum noch rühren konnte. Ich vermute, dass eine Spinalkanalstenose - also eine Verengung des Kanals, durch den das Rückenmark verläuft - dahintersteckte. Ich kenne diese Erkrankung auch aus meiner nächsten Umgebung. Von ihr sind oft Senioren betroffen, weil sie mit zunehmendem Alter kleiner werden und dieser Kanal gewissermaßen gestaucht wird.

Der Nachbar wurde behandelt, er konnte dann wieder kurze Strecken am Rollator gehen, was nicht selbstverständlich ist. Aber er haderte mit seinem Schicksal: Über unsere gemeinsame Gartenmauer hinweg beklagte er sich einmal, was er noch einige Monate zuvor alles gekonnt hatte und was nun beim besten Willen nicht mehr möglich war. "So viele Jahre war ich körperlich fit, und jetzt geht plötzlich alles nicht mehr!", bedauerte er sich im Gespräch mit mir. 
Ich muss sagen, ich war während dieses Gesprächs hin und her gerissen. Einerseits habe ich den Mann verstanden: Aus der Rückschau zu wissen, wie es ist, so vieles noch trotz des hohen Alters bewältigen zu können, und sich dann als hilfsbedürftigen Greis wahrzunehmen, nagt sicher am Ego. Über sich selbst sagte er auch ein ums andere Mal, er sei jetzt ein Krüppel. Dieser Begriff war in seinem Ursprung einmal wertneutral, ist es aber schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Wer Menschen mit einer Behinderung heute als 'Krüppel' bezeichnet, will sie bewusst herabsetzen und beleidigen. Das sagt allerdings mehr über den Trottel, der das tut, als über den Behinderten aus.

Zurück zu unserem Platz an der Gartenmauer. Unser Nachbar hatte sich im Bedauern über seine angeschlagene Gesundheit bestimmt drei oder vier Mal selbst als 'Krüppel' bezeichnet. Ich hatte versucht, seine trübe Stimmung etwas aufzuhellen, viel Erfolg hatte ich damit allerdings nicht. Insgeheim dachte ich: Warum sind so viele Menschen auf das in ihrem Leben fixiert, was nicht so grandios läuft? Warum gelingt es dem Nachbarn nicht, wertzuschätzen, dass er aufgrund der günstigen baulichen Voraussetzungen, die sein Haus auch für ihn mit seinen Einschränkungen bietet, nicht umziehen muss? Warum ist er nicht dankbar, eine fürsorgliche Lebensgefährtin zu haben, die sich um ihn kümmert und ihm den Alltag erleichtert? Warum nimmt er nicht wahr, finanziell gut genug gestellt zu sein, um nicht darauf angewiesen zu sein, auf bei der Krankenkasse beantragte Hilfsmittel monatelang zu warten, sondern sie kurzerhand selbst zu kaufen? Warum nimmt er nicht dieses große Geschenk zur Kenntnis, die ersten 91 Jahre seines Lebens ohne Beeinträchtigungen gelebt zu haben? Mir war bewusst, dass es in diesem Gespräch völlig sinnlos gewesen wäre, das alles zur Sprache zur bringen. Mein Nachbar wollte bedauert werden. Ich habe ihm diesen Wunsch erfüllt.

Nach einer Weile verabschiedeten wir uns und er ging in sein Haus. Schon nach wenigen Minuten öffnete sich nebenan die Tür wieder und unser Nachbar kam heraus. Er konnte nicht sehen, dass ich auf der Bank dicht an der Mauer saß, und sprach direkt meinen Mann an: "Was habe ich nur getan?", fragte er mit Tränen in den Augen. "Wie konnte ich nur Ihrer Frau gegenüber so oft das Wort 'Krüppel' sagen? Sie ist doch schon ihr ganze Leben lang behindert!" Mein Mann versuchte ihn zu beruhigen und sagte, dass ich das bestimmt nicht persönlich genommen hatte. Das hatte ich auch nicht. Ich hatte kurz überlegt, ob ich aufstehen sollte, um ihm zu sagen, dass er sich keine Gedanken machen solle und alles in Ordnung sei. Es überwog aber die Ahnung, dass das den alten Mann noch mehr aus der Bahn geworfen hätte.
Seitdem wir ihn kennen, hatten wir unseren Nachbarn noch nie so aufgewühlt erlebt. Mein Mann konnte ihm aber versichern, dass ich die Wortwahl nicht übel nehmen würde.

Dieser Nachbar hat zu unserer Überraschung auch die Mahnwache besucht, von der ich kürzlich erzählt habe. Er kam mit seinem Elektro-Scooter (womit ich nicht einen Roller meine) und blieb bis zum Schluss. Ausgerechnet er, den man so gut wie nie bei öffentlichen Veranstaltungen sieht. Ich frage mich seitdem, was er, der 1926 geboren wurde, wohl erlebt hat, dass es ihm wichtig war, an dieser Mahnwache teilzunehmen. Hat es in seinem Leben Ereignisse gegeben, die ihn nun dazu bewogen haben, sich gegen ein Erstarken des Antisemitismus' zu wenden? Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen. Ich bin mir sicher, er hat eine Menge zu erzählen.

Kommentare

  1. Viele Menschen sind allzuschnell dabei dem Gegenüber Selbstmitleid vorzuwerfen, ohne einfach mal nachzufragen, was der andere im Laufe seines Lebens schon alles miterleben musste. Gerade der Begriff Selbstmitleid wird in den letzten Jahren meiner Meinung völlig falsch eingesetzt und interpretiert. Überall, wo Menschen keine Lust mehr haben miteinander zu reden, schützt man sich damit, indem man dem anderen Selbstmitleid vorwirft. Selbst wenn man einem anderen Menschen Fakten und Erlebnisse aus dem eigenen Leben mitteilt, um damit zu dokumentieren, dass man aus diesen Erlebnissen heraus einfach vorsichtiger anderen Menschen oder Situationen gegenüber geworden ist. Ist das wirklich immer Selbstmitleid oder ist es nicht Lebenserfahrung, die einem andere Menschen streitig machen wollen??? Sei es drum, ob sie jünger sind oder eben weniger negative Erfahrungen machen mussten, aus welchen Gründen auch immer. (Reiche Eltern, genügend Zuwendung, eigenes genetisches Potenzial...)

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    1. Liebe Chris, hattest Du den Eindruck, ich würde ihm das vorwerfen? Die Sicht auf die eigene Situation hat nicht nur mit der Persönlichkeit, sondern auch mit der Vergangenheit und allem Erlebten zu tun. Ich sehe allerdings oft, dass der Fokus zu sehr auf den negativen Dingen liegt. Sie gehören aber wie die positiven zum Leben. In der Zeit, in der der Nachbar und ich uns kennen, hatte ich oft den Eindruck, dass er mich wegen meines Lebens mit seinen Einschränkungen bedauert. Als es ihm selbst nicht gut ging, sagte er, erst jetzt könne er sich vorstellen, wie es mir gehe und wie schwierig das alles sei. Nein, das kann sich niemand vorstellen, das erwarte ich aber auch nicht. Meine Erfahrungen habe aber dazu geführt, dass ich natürlich das, was mich belastet, wahrnehme und regle, was zu regeln ist, ich mir aber nicht von meinen Schwierigkeiten dauerhaft die Stimmung versauen lasse.

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