Erinnern oder vergessen? Wie gehen wir mit der Geschichte um?

Vor zwei Tagen war Volkstrauertag. Seit fast 70 Jahren wird an diesem Tag an die Opfer von Gewalt und Krieg aller Nationen erinnert. Vor etwas mehr als zwei Jahren habe ich hier über die große Zahl der behinderten und kranken Menschen geschrieben, die während der NS-Diktatur ermordet wurden. Auch sie sind gemeint, wenn am Volkstrauertag Reden gehalten werden.

Ich hatte mir damals vorgenommen, unbedingt nach Hadamar zu reisen. In der heutigen Gedenkstätte wurden zwischen 1941 und 1945 mehr als 14.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass darunter auch einer meiner Onkel war.

Hadamar ist allerdings von meinem Wohnort aus nicht so einfach zu erreichen. Bei mehr als vier Stunden Fahrtzeit für die einfache Strecke ist eine Übernachtung nötig. Außerdem wollte ich nicht ohne Begleitung fahren. 

Aber dann kam Corona. Mitte März 2020 gab es Kontaktbeschränkungen, Schließungen öffentlicher Einrichtungen etc. 'Na, ja', dachte ich damals, 'das geht ja auch vorbei. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.'

Es hat dann doch noch etwas gedauert, bis ich eine Begleitung gefunden hatte. Gestern hätte es losgehen sollen, die Hotelzimmer waren gebucht, unser Besuch in der Gedenkstätte war angekündigt. Und dann kam das, was wir schon aus dem letzten Herbst kennen: Die Inzidenzzahlen gehen ungebremst nach oben und parallel dazu werden Studienergebnisse veröffentlicht, aus denen hervorgeht, wie stark sich der Impfschutz je nach Covid-19-Vakzin mit der Zeit abschwächt. Unter diesen Vorzeichen haben mein Begleiter und ich den Besuch der Gedenkstätte verschoben. Vielleicht klappt es ja im Frühling 2022? Wer weiß das schon.

Mich hat die Situation frustriert. Kürzlich habe ich einer Bekannten von der abgesagten Fahrt erzählt. Sie hat sich das angehört und fragte dann, was denn genau meine Motivation sei, dorthin zu reisen. Ich erklärte ihr, dass der Anstoß die Erkenntnis, dass dort mein Onkel getötet worden sein könnte, gewesen ist. Allerdings würde ich mir die Gedenkstätte auch dann ansehen wollen, wenn sich dort keine Hinweise über ihn finden würden. Schließlich sei mir klar, dass ich nur dem glücklichen Umstand, nicht im sog. Dritten Reich gelebt zu haben, mein Leben verdanke.

"Aber meinst du nicht, dass es besser ist, wenn du dich damit nicht belastest? Das ist doch schon so lange her..." Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich habe vor ein paar Tagen von einer Umfrage gelesen, die sich mit der Erinnerung der Menschen an den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) beschäftigte. Anlass der Befragung war der zehnte Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011, an dem sich zwei der drei bekannten Drahtzieher umbrachten. Eine große Zahl der befragten Personen konnte nur zehn Jahre später nichts mehr mit dem Kürzel NSU anfangen, und das, obwohl man dem Thema spätestens während der Zeit des fünf Jahre dauernden Strafprozesses gegen das dritte Mitglied medial kaum ausweichen konnte. 

Das machte meine Bekannte nachdenklich. Verdrängen und vergessen erscheint natürlich zunächst einfacher zu sein als sich einem belastenden Thema zu stellen, aber tun wir uns damit wirklich einen Gefallen? Sich zu erinnern bedeutet doch auch, Mechanismen zu erkennen, die zu einer schädlichen Entwicklung geführt haben, und wiederkehrende Muster wahrzunehmen - damit sich dieselben Fehler nicht wiederholen.


Foto:  Irina Anastasiu von Pexels

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