Bin ich schwer in Ordnung?

Quelle: Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie
Auf der Suche nach Informationen zu einem ganz anderen Thema bin ich im Internet über ein Ereignis gestolpert, das schon ein paar Monate zurückliegt. Am 1. Oktober 2020 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 15 Frauen und Männer, die sich für die Gesellschaft eingesetzt haben, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Unter ihnen war auch eine 17-jährige Schülerin aus dem Kreis Pinneberg, die mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen ist.

Über die Schülerin wurde schon einige Jahre zuvor in der Presse ausführlich berichtet. Sie störte sich an der Bezeichnung "Schwerbehindertenausweis" und wollte erreichen, ein Dokument mit der Bezeichnung "Schwer-in-Ordnung-Ausweis" zu bekommen. Letztendlich gibt es zwar immer noch keinen solchen Ausweis, aber in einigen Bundesländern eine amtlich bereitgestellte Hülle, auf der dieses Wort so aufgedruckt ist, dass es das "Schwerbehindertenausweis" überdeckt.

Nun gab es das Bundesverdienstkreuz für diesen Einsatz. Der Bundespräsident begründete die Verleihung so: "Die von ihr ausgelöste Debatte hat den Blick auf Menschen mit Behinderung verändert und gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir auf unsere Sprache achten."

Ich weiß noch genau, was ich dachte, als ich zum ersten Mal von dieser Umbennungsidee gehört habe. Ich sage es mal so: Begeisterung sieht anders aus. Oder noch deutlicher: Was für ein Quatsch. Warum? Weil das Wort "schwerbehindert" genau ausdrückt, dass ich über ein bestimmtes Maß an Einschränkungen verfüge, das zu einem Anspruch auf Nachteilsausgleiche führt. Egal, ob man über sich selbst "Ich bin behindert" oder aus der Außenperspektive "Ich werde behindert" sagt: Die Probleme, die mit den Einschränkungen verbunden sind, bleiben dieselben. 

Wer diesen Umstand durch eine Umbenennung abmildern will, macht sich selbst etwas vor, denn an den Rahmenbedingungen ändert sich exakt gar nichts. Im Gegenteil: Das Wort "Schwerbehinderung" bringt die Sache auf den Punkt. Ob ich aber "schwer in Ordnung" bin, steht auf einem ganz anderen Blatt. Unter denen, die mich persönlich kennen, dürften sich in dieser Frage die Geister scheiden. Todsicher gibt es Leute, die mich am liebsten von hinten sehen und das Wort "Schwer-in-Ordnung-Ausweis" auf meinem Schwerbehindertenausweis als schlechten Witz auffassen würden.

Behindert zu sein macht den Menschen schließlich kein Stück besser. Aber auf die Sprache zu achten, wie es Herr Steinmeier hervorgehoben hat, ist allenfalls ein winziger Baustein, der meine Lebenswirklichkeit ausmacht. Da hat sich innerhalb meiner Lebensdauer nämlich durchaus eine Menge getan: In meiner Jugend waren solche Nettigkeiten wie "Ey, du Spast!" fast schon normaler Umgangston. Auch kritische Nachfragen, die mit "Bist du behindert oder was?" eingeleitet wurden, gehörten zum beinahe normalen verbalen Spektrum quer durch alle Bevölkerungsschichten.

Das ist heute anders. Auf diesem Gesprächsniveau ist mir schon - ohne Übertreibung - seit Jahrzehnten niemand mehr begegnet. Doch was Behinderten das Leben schwer macht, sind die täglichen Rücksichtslosigkeiten. Da ist zum Beispiel dieses unsägliche Zusammenspiel von Aufs-Smartphone-Starren und währenddessen weitergehen. Mit diesem Verhalten ist die Erwartung dieser Leute verbunden, dass ihnen alle, die ihren Weg kreuzen, selbstverständlich ausweichen. 
Schnell jemandem auszuweichen gehört leider nicht zu meinen Inselbegabungen, die drei Beine wollen schließlich koordiniert werden. Da sich solche Szenen immer in einer belebten Umgebung abspielen, haben dezente Formen der Hinweisgebung wie Hüsteln oder Räuspern keinen Sinn. Ich habe allerdings gelernt, mich an diese Widrigkeiten anzupassen und sage es mal so: Lunge und Stimmbänder sind nicht von einer Behinderung eingeschränkt. Die Wortwahl variiere ich, sie hängt maßgeblich von meiner Stimmung ab: Mal reicht ein laut hingehauchtes "EY!", mal muss es etwas komplexer sein ("PASS AUF!).

Die Methode funktioniert einwandfrei, die Erfolgsquote liegt bei 100 %. Aber ich schweife ab. Zurück zu der Ausweishülle. Sie fand breite Beachtung und erfuhr in den Medien viel Zustimmung. Bei mir kam das jedoch an, als handele es sich hier um einen willkommenen Anlass, sich wieder mal an die Behinderten zu erinnern, aber an den wesentlichen Problemen nichts grundlegend ändern zu wollen. Für mich gilt: Ich brauche keinen "Schwer-in-Ordnung-Ausweis", der die problematische Situation der meisten Behinderten verbal rosarot überzuckert. Mir geht es vielmehr um gesellschaftliche, behördliche und medizinische Unterstützung. 

Ich rege mich über Leute auf, die ohne eine entsprechende Berechtigung auf Behindertenparkplätzen stehen; ich ärgere mich, wenn bei neu geplanten öffentlichen Bauwerken die Belange von Behinderten zum x-ten Mal vergessen werden und mir schwillt der Hals, wenn ich lese, dass immer wieder neue Züge gekauft werden, die nicht barrierefrei sind - ob nun 18 Züge in Schleswig-Holstein für die Verbindung nach Hamburg oder auf Bundesebene sogar 30 neue ICE, die wie die alten nicht barrierefrei sind, obwohl die DB-Werbung das Gegenteil behauptet. So ein Zug ist 30 Jahre im Einsatz. 30 weitere Jahre Stillstand in puncto Barrierefreiheit. Und ich war wirklich sauer, als mir meine Krankenkasse den Zuschuss zu meinem behindertengerechten Fahrrad mit der Begründung abgelehnt hat, auf den Fotos der Herstellerhomepage sehe man ja nur gesunde Menschen, die auf diesem Fahrrad sitzen und deshalb könne es sich bei dem Modell gar nicht um ein Behindertenfahrrad handeln. Wie stellen sich solche Menschen denn Behinderte vor? Sabbernd, lallend, schielend? Das anschließende Gerichtsverfahren hat die Dinge dann gerichtet.

Das Aufhübschen eines Schwerbehindertenausweises mit einem angenehmer klingenden Begriff ist kein Beitrag zur Inklusion, auch wenn das in den Medien gern so verkauft wurde. Wem es mit so einer Hülle besser geht, der soll sie gern benutzen. Die gleichberechtigte Teilhabe von Behinderten bringt sie aber keinen Millimeter voran.


Kommentare

  1. Vielleicht wäre die Bezeichnung 'Ausweis für Menschen mit körperlichen Einschränkungen' eine Alternative?
    Die Bezeichnung Schwerbehindertenausweis finde ich auch nicht schön. Sie würde mich allerdings nicht stören, wenn ich einen hätte.
    Ich habe von der Sache ebenfalls in der Presse gelesen, mir aber weiter keine Gedanken darüber gemacht.
    Liebe Grüße von Ingrid, der Pfälzerin


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    1. Liebe Ingrid,
      dein Vorschlag würde leider alle Menschen mit geistigen und/oder psychischen Behinderungen ausschließen. Außerdem beinhaltet die juristische Definition u. a., dass die Einschränkung voraussichtlich länger als ein halbes Jahr so ausgeprägt sein muss, dass sie vom Zustand, der für das Lebensalter typisch ist, abweicht. Das bedeutet: Die Probleme, die für mich zu der Schwerbehinderung geführt haben, würden das im Alter von z. B. 80 Jahren nicht mehr tun. Von daher bin ich mit einem Begriff, der den rechtlichen Rahmen konkret umreißt, nicht unzufrieden, wohl aber mit dem, was ich mit diesem Status seit Jahrzehnten erlebe. Und ich kann dir sagen: Da ist nichts signifikant vorangegangen, und das, obwohl in Deutschland 7,9 Millionen Schwerbehinderte leben, die bei jeder Wahl darüber nachdenken, wo sie ihr Kreuz machen.
      Alles Liebe aus dem gerade nassen und wolkenverhangenen Niedersachsen

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