Pause beendet?

Geschlagene siebeneinhalb Wochen liegen zwischen diesem und meinem vorigen Beitrag. Im letzten Text hatte ich mir darüber Gedanken gemacht, ob die Medien durch Covid-19 sachlicher geworden sind. Den ersten Artikel zum Thema "neues Corona-Virus" habe ich am 1. März 2020 hochgeladen.

In Niedersachsen, dem Bundesland, in dem ich wohne, wurde die erste Covid-19-Infektion am 29. Februar nachgewiesen - gut einen Monat, nachdem es in Bayern am 27. Januar den ersten infizierten Patienten Deutschlands gab. Seitdem ist nach meiner Wahrnehmung etwas passiert, was einem müde vor sich hin tröpfelnden Regenschauer ähnelt, der sich nach und nach in einen Sturzregen verwandelt hat. Einen Sturzregen, der nicht mehr nachlassen will.

Seit vier Monaten werden Informationen kübelweise über uns ausgeschüttet. Es gibt nichts, was sich nicht irgendwie mit dem Wort 'Pandemie' verbinden ließe. Ja, Informationen sind wichtig. Ich will wissen, was um mich herum passiert. Was ich nicht verstehe: Warum veröffentlicht meine Tageszeitung jeden Tag die neuesten Daten zu den Infektionszahlen? Im Hannover-Teil wird die Zahl der aktuell Infizierten und der an Covid-19 Verstorbenen (einschließlich der absoluten Steigerung) abgedruckt, danach folgt eine Statistik der Infizierten in der Region Hannover, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Städten. Zum Schluss folgt die Zahl der in Niedersachsen aktuell Infizierten sowie der an der Infektion Verstorbenen (wieder einschließlich der absoluten Steigerung).

Mir tut es um jeden leid, der an Covid-19 erkrankt oder sogar daran verstirbt. Mir tut es um die Menschen leid, die jemanden an diese Krankheit verloren haben. Das ist gar keine Frage. Aber ich kann nicht nachvollziehen, warum jeder einzelne Fall in der Presse veröffentlicht wird.

Wovon sind wir noch derart bedroht, dass wir uns um
das Ausmaß der Bedrohung Sorgen machen müssen? Die Influenza  könnte hier beispielsweise herangezogen werden. Nein, ich will keinen Vergleich der beiden Erkrankungen anstellen. Mir geht es hier um einen Vergleich des medialen Umgangs mit den Erkrankungen. Bis zum Ende der Influenza-Saison in der 12. Kalenderwoche dieses Jahres hat es nach Angaben des RKI fast 187.000 bestätigte Influenzafälle gegeben. Darunter waren Patienten, die wegen der Schwere des Krankheitsverlaufs im Krankenhaus behandelt wurden. Das RKI gibt hier 16 % an, das sind dann etwa 29.900 Erkrankte; ihm sind 518 Menschen gemeldet worden, die in der vergangenen Saison an Influenza verstorben sind. Das RKI spricht von einer milden Influenza-Saison, die höchstwahrscheinlich durch die Kontaktbeschränkungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie frühzeitig zu Ende gegangen ist.

Warum wird die Influenza von den Medien kaum thematisiert? Sie wird fast schon stiefmütterlich behandelt, obwohl sie natürlich nicht nur gesundheitliche, sondern auch wirtschaftliche Folgen hat: Fachleute gehen wegen der Arbeitsausfälle von einem volkswirtschaftlichen Schaden von drei Milliarden Euro aus, die Kosten für die Krankenkassen betragen etwa zwischen 50 bis 120 Millionen Euro. Aber niemand veröffentlicht täglich die Zahl der an Influenza Erkrankten. Und ehrlich: Ich möchte das auch nicht. 

Ich würde auch keinen Wert darauf legen, wenn man z. B. öffentlich täglich hochzählte, wie viele Menschen an einer der fünf häufigsten Todesursachen verstorben sind. Rund 345.000 Menschen verstarben in Deutschland 2018 übrigens an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, der Nummer 1 unter den häufigen Todesarten. Mehr als 16.000 Menschen verloren nach einem Sturz ihr Leben. Jeder einzelne Fall ist traurig, ich will aber nicht über eben jene einzelnen Fälle täglich aus jeder Ecke informiert werden.

Hat eigentlich jemand von euch mitbekommen, dass es in Deutschland 2016 fast 85.000 Infektionen mit dem hochansteckenden Norovirus gab? Zwei Jahre später waren es immerhin noch 77.500. Die Infektion kann sehr unangenehm verlaufen, vor allem Kinder unter fünf Jahren sowie Senioren sind gefährdet. Die Letalität ist hingegen gering. Das wurde in der Öffentlichkeit gar nicht thematisiert. Noroviren sind extrem ansteckend und verbreiten sich über Schmierinfektionen. Handhygiene hat bei der Prophylaxe oberste Priorität. Vielleicht würde die regelmäßige Bekanntmachung der aktuellen Zahl der Noro-Erkrankten dafür sorgen, dass sich die Menschen häufiger und gründlicher die Hände waschen? Diese Frage ist rein rhetorisch, niemand hat ein Interesse daran.

Ich kann nur vermuten, dass mit dem außergewöhnlichen Umgang mit den Covid-19-Daten vor allem erreicht werden soll, dass die Menschen die Bedrohung durch das Virus nicht aus den Augen verlieren. Es soll ein bestimmtes Angst-Niveau aufrechterhalten werden. Nach so vielen Wochen des Daten-Bombardements frage ich mich aber, ob allmählich der Schaden, der hierdurch entsteht, nicht größer als der Nutzen ist. Nicht nur der ökonomische, sondern auch der menschliche: Hatten wir nicht schon "vor Corona" einen spürbaren Mangel an Psychologen und Psychiatern? Ich wage mal die Prognose, dass sich dieser Mangel noch deutlicher auswirken wird.


Welche Auswirkungen hat die Situation auf mich? Eine Aufzählung.

Ich empfinde diese Fülle von einseitig auf ein Thema und einen Fokus ausgerichteten Nachrichten als bedrückend. Kürzlich wollte ich bei wetter.com nachschauen, ob es am nächsten Tag Regen geben würde. Als sich die Seite aufgebaut hatte, sah ich gleich unter den Themen-Reitern einen gelben Balken: 'TICKER ZUR CORONAKRISE: Aktuelle Entwicklungen und neueste Zahlen' stand dort (und steht es noch immer). Vorangestellt war die Stilisierung eines Covid-19-Virus'. Was soll das?

Ich habe einen Mobilfunk-Vertrag bei Vodafone. Wenn ich mein Smartphone zur Hand nehme und auf den Startbildschirm schaue, wurde mir bis vor Kurzem wochenlang in der linken oberen Ecke '#StayHome' eingeblendet. Im Moment steht da '#BleibGesund'. Mir geht das richtig auf die Nerven. Es reicht, wenn sich mein Mobilfunkanbieter um die Netzstabilität kümmert. Ich brauche niemanden, der verbal mit erhobenem Zeigefinger von seinen Kunden Disziplin einfordert. Ich bin mit über 50 halbwegs erwachsen.

Seit dem 23. März gelten bundesweit Kontakteinschränkungen. Seitdem habe ich einige Familienmitglieder nur noch selten gesehen, einige gar nicht. Die wenigen Treffen fanden im Freien mit Abstand statt. Da meine Kinder nicht mehr in unserem Haushalt leben, musste ich auch um sie einen Bogen machen. Ich glaube, viele von euch können nachvollziehen, wie traurig sich das anfühlt, dem eigenen Kind gegenüberzustehen und es nicht umarmen zu dürfen. 

Eine sehr beklemmende Situation habe ich neulich in meinem Garten erlebt. Eine langjährige Freundin war gekommen und wir hatten uns draußen mit Abstand hingesetzt. Sie gehört zu den Menschen, die darauf achten, die Covid-19-Regeln einzuhalten. Die Freundin erzählte von ihrer belastenden familiären Situation, die sich durch die Einschränkungen wegen der Pandemie weiter verschlechtert hatte. Und während sie sprach, brach sie plötzlich in Tränen aus. Was ist in so einer Situation die normale Reaktion einer Freundin? Sie versucht durch Nähe und eine Umarmung ein bisschen Trost zu geben. Aber ich rang mit mir, was da jetzt Vorrang haben sollte: meine menschliche Zuwendung oder der Schutz vor einer möglichen Ansteckung. Kurz: Es war - um es deutlich zu sagen - ein Scheißgefühl. Meine Freundin hatte sich relativ schnell wieder im Griff, aber mich hat diese Zerrissenheit auch noch am nächsten Tag beschäftigt. 

Und dann lese ich in etlichen Zeitungsartikeln oder im Internet, die Pandemie stelle "eine neue Nähe" her. Ich sehe auf das Geschreibsel und habe den Eindruck, dass die Leute, die so etwas in die Welt setzen, und ich nicht auf demselben Planeten leben. Wie armselig war deren Gefühlslage und soziale Interaktion bislang, wenn sie die Abstandsregeln mit mehr Nähe verbinden? Vergeblich habe ich über diesen Texten das Wort "Satire" gesucht.

Ich habe schon seit Jahren nicht mehr so ausgiebig telefoniert wie in den letzten Wochen. Gespräche von eineinhalb oder zwei Stunden sind die Regel gewesen. Aber so ein Telefonat ist kein Ersatz für eine persönliche Begegnung. Ein Treffen per Skype & Co. übrigens auch nicht. Das alles ist besser als gar keine Kommunikation, aber wenn es um persönliche Dinge geht, sind diese technischen Möglichkeiten nichts anderes als Krücken. Auch, wenn man sein Gegenüber während eines Gesprächs auf dem Bildschirm sehen kann, geht ein Teil der nonverbalen Kommunikation unter.

Geht ihr noch oft einkaufen? Den wöchentlichen Großeinkauf erledigt hier mein Mann. Wenn zwischendurch ein Gang nötig ist, übernehme ich ihn. Aber ich habe mich an das Maskentragen nicht gewöhnt und auch nicht den Eindruck, als würde ich es noch tun. Nicht, dass ich jetzt missverstanden werde: Ich halte es für nötig, um eine weitere Ausbreitung von Covid-19 abzubremsen. Das heißt aber nicht, dass ich mich mit einem Mund-Nase-Schutz wohl fühle. Ich verkneife mir praktisch jeden Anlass, zu dem eine Maske getragen werden muss, der vermeidbar ist. Auf einen Sprung in ein Geschäft zu gehen nur um zu schauen, was es dort so gibt, mache ich derzeit nicht. Das geht auch etlichen Menschen in meinem Freundeskreis so. Ob sich diese Abneigung auf meine Altersgruppe beschränkt, weiß ich nicht.

Spontaneität hat in der jetzigen Situation Sendepause. Wenn ich beispielsweise vor dem Besuch des Zoos in Hannover eine Zutrittsberechtigung für ein bestimmtes Zeitfenster im Internet buchen muss oder mich das Landesmuseum Hannover auf seiner Homepage auf die maximale Besucherzahl von 150 Personen und die damit verbundenen Wartezeiten hinweist, geht da für Kurzentschlossene gar nichts mehr. Das Essen in Restaurants verkneifen wir uns, die Plätze auf deren Terrassen sind aufgrund der Abstandsregeln so rar, dass man auf jeden Fall vorab einen Tisch reservieren sollte.

Um das klarzustellen: Ich finde die Abstandsregelungen und das Maskentragen in der Sache richtig. Diejenigen, die auf die Landesregierungen oder die Bundesregierung schimpfen, weil ihnen Maßnahmen zu locker oder zu streng sind, sollten versuchen, sich in die Lage der Entscheiderinnen und Entscheider zu versetzen: Wer würde sich darum reißen, sich in einer nie dagewesenen Situation für den einen oder anderen Weg auszusprechen und dafür die öffentliche Verantwortung zu übernehmen? 

Aber ich mag mir nicht vorstellen, dass sich die gegenwärtige Situation noch länger hinziehen und was passieren könnte, wenn sich die Hoffnung auf einen Impfstoff als platzende Seifenblase entpuppt. Bleiben wir dann im jetzigen Maßnahmen-Stadium stecken? Ich breche meine Überlegungen an dieser Stelle lieber ab und führe sie für mich weiter. Zumindest vorerst. Denn zu sagen gäbe es noch eine Menge mehr.

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