Sind die Medien durch Covid-19 sachlicher geworden?

Diese Fragestellung ist nicht auf meinem Mist
gewachsen. Ich bin darauf beim Lesen eines Tweets gestoßen, der vor ein paar Tagen von einem Redakteur "meiner" Tageszeitung abgesetzt worden ist. Im verlinkten Artikel heißt es unter anderem: "Der Ton in den sozialen Medien wird freundlicher, der Hunger nach Fakten ist groß. Für Journalisten ist die Krise eine Chance, Vertrauen zurückzugewinnen."

Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich empfinde die Berichterstattung über Covid-19 als mediales Trommelfeuer, das in dieser Form nicht sein müsste. Es scheint fast kein Thema mehr zu geben, das sich nicht irgendwie mit dem neuen Corona-Virus verknüpfen ließe. Aus gefühlt jedem Loch wird eine Person gezerrt, die sich berufen fühlt, etwas mehr oder weniger Sinnvolles zum Thema zu äußern. Da werden -zig medizinische Experten - Virologen, Immunologen, Infektiologen, Epidemiologen,... habe ich einen vergessen? - nach ihrer Einschätzung gefragt, deren Namen bislang möglicherweise dem wissenschaftlichen Inner Circle bekannt waren, mir schnöder Nachrichtenguckerin und Zeitungs- und Buchleserin nicht.

Dann müssen selbstverständlich auch Vertreter anderer - gern akademischer - Disziplinen zu Wort kommen:
  • Soziologen lassen sich aus über die Folgen des Social Distancing auf
    • Kinder, (Ehe-)Partner und die Familie insgesamt,
    • die Beziehung zu den Kollegen während der Homeoffice-Phase,
    • die häusliche Belastung durch das Homeoffice,
    • das Konsumverhalten,
    • das Sozialverhalten von Hund, Katz' und Maus. Nein, das habe ich mir jetzt ausgedacht.
  • Pädagogen und/oder Schul- oder Wissenschaftspolitiker werden befragt zu
    • den Problemen, die durch die geschlossenen Kitas (dazu siehe auch die Äußerungen der Soziologen), Schulen und Hochschulen entstehen,
    • der Digitalisierung und ihren Möglichkeiten in den Bildungseinrichtungen, sofern diese überhaupt existiert,
    • der Frage, wie Homeschooling bzw. Homelerning ohne die entsprechende Bildungseinrichtung funktionieren kann.
  • Experten aus jeder denkbaren Fach- und Himmelsrichtung geben jedem Thema, das noch Anfang März ein ganz normales gewesen wäre, den besonderen Corona-Drall: 
    • Es wird nicht nur einfach gekocht, sondern es werden Corona- oder Krisenrezepte vorgestellt. Wahlweise aus den Abteilungen "Kochen mit Kindern", "Kochen für Kinder", "Kochen für die Familie" oder verknüpft mit dem Wort "Ausgangsbeschränkungen". Virusfrei scheint das Kochen nicht mehr zu funktionieren.
    • Auch einfach nur aus Spaß lesen oder ein Gesellschaftsspiel spielen ist offenbar nicht mehr möglich. Die entsprechenden Tipps werden verpackt in Überschriften, die vermuten lassen, dass beide Freizeitbeschäftigungen nur im Krisenmodus möglich sind. Da heißt es dann zum Beispiel bei der Süddeutschen Zeitung: Buchmarkttrends in der Corona-Krise, während die Augsburger Allgemeine titelt: Alltag mit Corona - Sieben Tipps für Lektüre mit Ausdauer. Einfach nur tolle Titel vorzustellen scheint zu banal geworden zu sein.
  • Auch Schriftsteller entpuppen sich als gefragte
    Sehr schade, Jules Verne nicht mehr fragen zu können...
    Krisen-Gesprächspartner. Der SPIEGEL hat beispielsweise allen Ernstes Frank Schätzing, der mit seinem fiktionalen Roman "Der Schwarm" seinen Durchbruch erlebte, nach seiner Einschätzung der aktuellen Situation gefragt. Wozu? Und: Wann wird der Krimi-Bestsellerautor Sebastian Fitzek zu Corona befragt? Ließe sich da nicht etwas sehr Originelles wie zum Beispiel der Mord an der steinalten Erbtante durch Anhusten konstruieren? Die perfekte Methode, jemandem ohne Zeugen und ohne Spuren den Garaus zu machen! Ich war mir beim Verfassen dieser Zeilen unsicher, wie man "Fitzek" schreibt. Vielleicht doch mit "ck" wie bei "Ecke"? Die Suchmaschine mit dem Globus-Logo konnte mir darauf im Bruchteil einer Sekunde eine Antwort geben. Was sie mir an vorderster Stelle anzeigt: Die Deutsche Presseagentur ist bereits auf die originelle Idee gekommen, den "Experten" zu befragen. Am 1. April (Zufall?) machte dann dieses Zitat in den Zeitungen von Kiel bis München die Runde: "
    Es ist ganz schrecklich. Hinter den Todeszahlen stecken Schicksale und Familien.“ Ja, wer hätte das gedacht... Und vor allem: Wer hätte so einen trivialen Quark gebraucht?
  • Und damit die Stimmung der Medienkonsumenten treffsicher auf dem Nullpunkt ankommt, werden in endloser Folge Finanzexperten interviewt. Diese Expertenspezies scheint sich innerhalb der letzten Wochen durch Zellteilung exponentiell vermehrt zu haben und gibt hilfreiche Hinweise im Spektrum von "Deutschland wird es am besten aus der Krise heraus schaffen" bis zu "Wir werden unser Land nicht mehr wiedererkennen". Der Erkenntnisgewinn ist etwa so hoch wie bei einem Blick in die Kristallkugel.
Talkshows sehe ich mir schon seit einer halben Ewigkeit nur im absoluten Ausnahmefall an. Aber allein die Ankündigungen der Themen bei Will, Maischberger & Co. sind derzeit Grund genug, die Glotze aus zu lassen: Bei Anne Will geht es seit dem 8. März jeden Sonntag um nichts anderes mehr als das Virus, Sandra Maischberger spricht mit ihrem Gästen seit dem 18. März jede Woche darüber, Frank Plasberg tut das in seiner Sendung 'hartaberfair' seit dem 16. März. So, als ob es keine regulären Nachrichtensendungen gäbe, in denen sich die Menschen informieren könnten.

Früher... Wie bitte? Früher? Vor Mitte März gehörte die Heute-Show zu den Sendungen, die wir uns jede Woche angesehen haben. Aktuelles wurde da witzig verpackt. Das wird es immer noch, aber ausschließlich Aktuelles zum Thema "Corona". So wichtig das ist, aber ist in der Welt nichts anderes passiert, das sich gelohnt hätte, aufs Korn genommen zu werden?

Kürzlich habe ich den Fehler gemacht, über die App einer Wochenzeitung Push-Meldungen für mein Smartphone zu abonnieren. In einem Anfall von Naivität habe ich darauf vertraut, dass man mich über wichtige Nachrichten zur Pandemie informieren würde. Über Dinge, die essentiell sind. Eine der ersten Meldungen, die dann eintrudelten, beschäftigte sich damit, womit sich Profifußballer die Zeit in der Quarantäne zu Hause vertreiben. Man erfuhr beispielsweise, dass der 96-Torwart Ron-Robert Zieler jetzt Tischtennis spielt und Reis- und Nudelpackungen als Netz benutzt. Sehr originell. Einer seiner Teamkollegen backt jetzt selbst Brot. Und so ein inhaltsleerer Schrott ist ernsthaft eine Push-Nachricht wert?

Die Medien informieren mich auch darüber, welcher Star aus der Film-, Theater- oder Musikbranche sich mit dem Virus angesteckt hat. Manche der Stars sind so bekannt, dass ich ihre Namen zum ersten Mal lese.

Zurück zum Titel dieses Beitrags. Ich wünsche mir von den Medien außerhalb der Regenbogenpresse, dass sie mich sachlich informieren. Über Covid-19, aber auch über andere Dinge, die unser Leben ebenfalls beeinflussen. Diese Fixierung auf die Pandemie in allen Bereichen ist für mich mittlerweile schwer erträglich. Die ununterbrochen schlechten Nachrichten aus absolut jedem Lebensbereich belasten die Psyche. Das ist für sich genommen noch keine Neuigkeit, aber die Medien, denen von einem Zeitungsredakteur im oben erwähnten Tweet unter den Vorzeichen der Krise mehr Sachlichkeit zugesprochen wurde, haben daran ihren großen Anteil, indem sie Wichtiges und Wissenswertes mit Banalem und Verzichtbarem in einen großen Nachrichtenkessel werfen und diese trübe Brühe ununterbrochen umrühren. Nicht in dem Wunsch, uns alle auf eine gute Weise zu informieren, sondern um für ihre Artikel Aufmerksamkeit einzusammeln. Da ist es völlig fehl am Platz, sich am Ende noch selbst zu beweihräuchern. Wer echte Nachrichten vermitteln will, sollte nicht mit Trash um sich werfen.

Kommentare

  1. Dieser Trend ist mir auch schon aufgefallen. Da wird wirklich jeder noch so banale Aspekt von irgendwelche Experten beleuchtet. Wahrscheinlich ist es einfach fad, immer wieder über den Aufbau des Covid-19 Erregers zu berichten oder die Zahlen des Johns-Hopkins-Institut herunterzubeten. Außerdem hat der Lothar Wieler vom RKI auch nicht immer Zeit und Lust, da bietet sich doch einmal der Fitzek an. Helene Fischer wäre auch eine Alternative.
    Bleib gesund!
    LG
    Sabiene

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    1. Nein, bitte nicht Helene Fischer! Was könnte sie denn Passendes beitragen? "Ich habe Angst, dass sich das Corona-Virus auf die Flexibilität meiner Stimmbänder auswirken könnte." Nein, danke. Ich wundere mich, dass ich noch keine Interviews mit den absolten Horrorexperten Stephen King und Thomas Harris gesehen habe. Gegen die beiden ist doch Fitzek ein blutiger Anfänger. Vielleicht sollte ich mal danach googeln... ;-)
      Liebe Grüße
      Ina

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