Vergesslich? Mr. Carroll weiß Rat

Manchmal denke ich, alles Wichtige, was in der Welt
passiert, zieht unbeachtet an mir vorbei. Gut, nicht alles, aber doch eine Menge, was mit "T" beginnt und mit "rend" endet. Ich bin da in der Regel so uninformiert wie der Mann im Mond.

Diesen Aufräum-und-Wegschmeißtrend, den die geschäftstüchtige Japanerin Marie Kondo für sich gewinnbringend angestoßen hatte, habe ich erst bemerkt, als ihre ersten Kunden schon wieder anfingen, sich ihre Schränke erneut vollzumüllen. Jetzt hat Ryder Carroll, ein Digital Product Designer aus den USA, in zwanzigjähriger Arbeit ein Konzept entwickelt, das uns chaotischen und vergesslichen Erdenbürgern dabei helfen soll, unsere Gedanken und Pläne in geordnete Strukturen zu lenken. Das Konzept heißt genau wie das zugehörige Buch "Bullet Journal". Carroll selbst beschreibt es in seinem Vorwort als ein "Zwischending aus Terminplaner, Tagebuch, Notizbuch, To-do-Liste und Skizzenbuch". Das wird nicht etwa digital gemacht, wie man bei der Berufsbezeichnung des Autors vermuten könnte, sondern in einem handelsüblichen Notizbuch.

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Methode vielen Menschen dabei hilft, ihre Zeit sinnvoll einzuteilen und sie davor bewahrt, Termine oder Aufgaben zu vergessen. Als ich allerdings das Wort "To-Do-Liste" sah, fiel bei mir die Klappe: Vor etlichen Jahren war ich Teil eines Teams, zu dem auch eine Psychologin gehörte. Diese Dame war irgendwann auf die grandiose Idee verfallen, dass künftig alle Kolleginnen und Kollegen mit einer gemeinsamen To-Do-Liste arbeiten sollten. Jeder hatte also nicht nur die eigenen Aufgaben und Zeitpläne im Blick, sondern auch die der anderen Teammitglieder. Unsere Chefin fand die Idee super.

Das sah dann in der Praxis so aus, dass jeder dort eintrug, was er kurz- oder mittelfristig für dieses oder jenes Projekt zu tun hatte und den Eintrag Woche für Woche um den aktuellen Arbeitsstand ergänzte.

Diese Sitzungen, in denen zu Beginn die To-Do-Liste mit den Be- und Anmerkungen aller Kolleginnen und Kollegen besprochen wurde, entwickelten sich schnell zum effektivsten Zeitverschwendungsmechanismus aller Zeiten. 

Einige Kollegen ergingen sich ausufernd in ihren dienstlichen Heldentaten und konnten gar nicht mehr damit aufhören, in epischer Breite zu schildern, wie sehr sie sich in der vergangenen Woche ins Zeug gelegt hatten. Andere, bei denen es eher stockend weitergegangen war, begründeten diesen Malus wortreich mit äußeren Umständen (es war zu heiß zum Arbeiten, man wurde vom anhaltenden Telefonklingeln/ Bauarbeiten/ Menschen um einen herum usw. ständig gestört, es gab noch Wichtigeres zu tun etc.) oder verwiesen gleich auf die Schuld des Kollegen X oder der Kollegin Y. Selbstverständlich handelte es sich bei den "Schuldigen" nicht um Personen, die gerade an der Sitzung teilnahmen, denn die hätten sich ja gegen solche Vorhaltungen wehren können. Wie praktisch.

Ich glaube, dass diese wöchentlichen Sitzungen zum Langweiligsten gehören, was ich in meinem Leben ausgehalten habe. Wie viele Kugelschreiberminen dabei draufgegangen sind, wenn ich während der Vorträge der Selbstdarsteller, Büroschwerstarbeiter oder Schuldverleugner gedankenverloren Strichmännchen, Blumenwiesen oder immer wieder - auch im Sommer - das Haus vom Nikolaus gemalt habe? Fragt die Kollegin in der Materialausgabe. Sie weiß bestimmt auch, ob ich von meinem mitmalenden und ebenso gelangweilten Kollegen in dem Punkt überrundet worden bin.

Leider hat es die Vorgesetzte, die von der Idee zunächst so angetan war, nicht geschafft, das Rad zurückzudrehen. Gegen die Kommunikationswerkzeuge, die eine Psychologin (und natürlich auch ein Psychologe) während des Studiums erlernt, kommt man in der Regel nur schwer an.
Die Psychologin ist mittlerweile im Ruhestand. Ob die To-Do-Liste ihre Abwesenheit überdauert hat, weiß ich nicht.

Zurück zu Ryder Carroll. Bis ich in dieser Woche las, dass er mit seinem "Bullet Journal" einen Trend losgetreten hat, war mir das nicht bewusst gewesen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Es wird aber nicht leicht, sich mit den fast schon antiquierten Hilfsmitteln Stift und Papier gegen den - auch von mir registrierten! - Trend durchzusetzen, alles im Leben digital zu handhaben. Drücken wir ihm doch einfach die (analogen) Daumen.

Wer sich übrigens für das Buch interessiert, findet hier eine Leseprobe.

Kommentare

  1. Mit ToDo-Listen oder -Apps kann man sehr Geld verdienen. Und das Internet (hier besonders DIY-Blogs, Instagram und Pinterest) sind voller DIY-Anleitungen, mit denen man mit Hilfe Washi-Taps und Kalligraphie sich eine Bullet-Journal gestalten kann. Mit einem solchen Projekt ist man dann einige Monate beschäftigt, so dass man andere Aufgaben automatisch canceln oder delegieren muss. Aber hier ist wohl der Weg das Ziel.
    Und um es einmal mit Berthold Brecht zu sagen:
    "Ja, mach nur einen Plan!
    Sei nur ein großes Licht!
    Und mach dann noch’nen zweiten Plan
    Gehn tun sie beide nicht."
    LG
    Sabienes

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    1. Washi-Taps? Wieder etwas, was ich nicht kenne - und wohl auch nicht vermissen werde. Brecht hat vermutlich zu Hause vor seiner Kristallkugel gesessen und das, was er gesehen hat, schreibend verarbeitet. ;-)
      LG
      Ina

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