Zurück zu den Wurzeln, auch wenn es tödlich enden kann

Und wieder habe ich in dieser christlichen Zeitschrift
geblättert. Was ist nur mit mir los?
Nein, im Ernst: Das Blatt hat den klaren Pluspunkt, dass es seine Leser nicht nach jedem Komma missionieren will, sondern lebensnahe Themen aufgreift und anschaulich darüber berichtet. Ganz ohne den Heiligen Geist und ein Amen am Textende.

Dort war nun ein Artikel über eine alte Frau zu lesen, die trotz einer schweren Herzerkrankung die Reise von den USA nach Deutschland auf sich genommen hat. Ihr war völlig bewusst, dass sie der Flug das Leben kosten konnte, aber das hat sie für ihr Ziel in Kauf genommen. Die Seniorin wurde u. a. von ihrer Tochter begleitet, die sie bei allem unterstützt hat. Warum nimmt man solch ein großes Risiko auf sich? Eines vorweg: Ich kann die alte Dame verstehen.

Die Frau hat sich praktisch ihr ganzes Leben lang gefragt, wo ihre Wurzeln sind. Sie wurde in Deutschland geboren, dann von ihrer Mutter getrennt: Aus einem nichtigen Grund wurde die Mutter 1942 zur Zwangsarbeit verurteilt, da war die heutige Seniorin erst zwei Monate alt. Die nächsten Jahre verbrachte sie in einem Kinderheim, aus dem sie von ihrer Mutter erst abgeholt wurde, als diese schon seit zwei Jahren wieder in Freiheit war. 1948 emigrierte die Mutter mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Lebensgefährten, einem amerikanischen Soldaten, in die USA. Die Mutter hat während ihres Lebens nur wenig aus der damaligen Zeit erzählt. Ihre Tochter, die nun in München auf Spurensuche war, hatte viele Fragen und hoffte, dass diese durch den Besuch ihrer früheren Heimatstadt beantwortet werden können. 
Das klappte tatsächlich. Die Seniorin konnte sich am Ende ihres Aufenthalts einen Reim darauf machen, warum sie immer den Wunsch nach einer großen Familie hatte: Sie ist Mutter von zwei leiblichen und sieben Adoptivkindern. Auch ihr Helfersyndrom, das sie schon als Zehnjährige dazu brachte, sich für das Wohl von Kindern einzusetzen, lässt sich jetzt mit den Ereignissen in ihrer Kindheit erklären. Ereignisse, an die sich die Frau vor ihrer Reise nicht aktiv erinnern konnte.

Wir wollen und müssen wissen, wer wir sind. Damit ist nicht nur gemeint, dass wir unsere Eltern kennen. Auch das Wissen um weitere Familienmitglieder wie z. B. Halbgeschwister ist wichtig, um sich selbst zu verorten. In meiner Familie habe ich sie auch erlebt, diese Suche nach Halbgeschwistern. Es war schon lange klar, dass es sie gibt, aber nicht, wie viele. Die, die umfassend darüber hätten Auskunft geben können, haben sich verweigert; jetzt sind alle, die etwas sagen könnten, tot. Für meine Verwandte, die sich seit Jahrzehnten immer wieder damit beschäftigt, Halbgeschwister zu finden bzw. zu denen, von denen sie weiß, Kontakt aufzunehmen, ist das eine traurige und unbefriedigende Situation. Immer, wenn sie andere Verwandte auf dieses Thema, das ihr immer so wichtig war, angesprochen hat, haben diese geschwiegen oder sie mit dem banalsten aller Sätze abgefertigt: "Das ist doch alles schon so lange her..."

Doch Dinge, die einem wichtig sind, können so lange her sein, wie sie wollen, der schiere Zeitablauf macht sie nicht unwichtig. Das empfindet auch meine Verwandte so.
Die Dame im Zeitschriftenartikel hat sehr viel über sich und ihre Mutter erfahren. Sie hat große körperliche Strapazen auf sich genommen, um die Fragen, die sie ihr Leben lang beschäftigt und begleitet haben und auf die sie in den USA keine Antwort finden konnte, zu klären. Das ist ihr gelungen. Sechs Tage nach ihrer Rückkehr aus Deutschland ist sie in den USA gestorben.

Kommentare

  1. Ich finde es sehr schön für die Seniorin, dass sie sich ihren Wunsch so knapp vor ihrem Lebensende noch erfüllen konnte. Einen Teil des Beitrags verstehe ich leider nicht:"Die Seniorin konnte sich am Ende ihres Aufenthalts einen Reim darauf machen, warum sie immer den Wunsch nach einer großen Familie hatte: Sie ist Mutter von zwei leiblichen und sieben Adoptivkindern". Ist mit "Mutter" hier die Mutter der Seniorin gemeint?

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  2. Ahh, ich hatte den Satz anders gelesen. Danke!

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