So feudal lebt es sich im Alter

Unter den Werbeblättchen, die heute unseren Briefkasten zugemüllt haben, war eines, das auf den ersten Blick teuer aussah. Auf den zweiten Blick immer noch. Das Druckwerk wurde als "Zeitung" bezeichnet und stammte von einem Immobilienmakler aus Südhessen. Nicht so ein kleiner Krauter, der Omma ihr klein Häuschen verscherbelt, wenn die Seniorin ihren letzten Wohnsitz in ein Pflegeheim verlegt. Nein, hier wurden
Nägel mit doppelt so großen Köpfen wie üblich gemacht. Die Firma hat nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland Büros. Beim Blättern durch die Seiten mit den Immobilienangeboten sagte meine innere Stimme einige Male sehr, sehr angetan: "Oh, wie schön!", doch das limbische System hatte schon eine Sekunde später gegen den präfrontalen Cortex verloren. Immer dann nämlich, wenn die Augen das Symbol für den Preis - zwei niedliche Geldtürmchen - suchten. 'Jenseits von Gut und Böse' könnte man die Vorstellungen nennen, die das Maklerunternehmen da zu Papier gebracht hatte. Oft stand auch nur noch "Preis auf Anfrage" darunter, als würde man befürchten, dass sich das Papier bei zu hanebüchenen Zahlen wellt.

Ich sehe im Geiste ein paar der in dieser Firma beschäftigten Verkäufer bei ihrer Morgenbesprechung. Sie sitzen um einen runden Tisch herum, vielleicht in einem Raum mit Aussicht auf das Mittelmeer oder das Rheintal. Gut gelaunt werfen sie Hausfotos und -beschreibungen in die Tischmitte, jeder darf der Reihe nach mit verbundenen Augen ziehen und nach vorher beschlossenen Vorgaben ("Der Quadratmeterpreis muss vierstellig sein und mindestens mit einer 3 anfangen") den Kaufpreis festlegen. Wenn die Kollegen nicht einverstanden sind ("zu niedrig!"), wird wahlweise auf die bereitliegenden Würfel, das Glücksrad (schöne Grüße an Maren Gilzer) oder eine eigens für die Preisfindung konstruierte Slot-Machine zurückgegriffen. Sollte zufällig gerade Reinigungspersonal im Raum sein, wird es zur konstruktiven Mitarbeit aufgefordert ("Sagen Sie doch mal eine Zahl zwischen 5 und 7. Danke!").
Die weiteren Seiten wurden mit Anzeigen von Möbelfirmen, Teppichherstellern und selbsternannten Designexperten gefüllt. Vor jedes Hauptwort in diesem Satz kann das Attribut "exklusiv" gesetzt werden. Kurze Wohn-Artikel über Karl Lagerfeld und das niederländische Königspaar runden das Bild ab.

Ich glaube, ich habe einen Eindruck vom Preisniveau geben können, in dem sich das Immobilienvermittlungsunternehmen zuhause fühlt. Keines der Objekte ist für Otto Normalverdiener erreichbar. Man könnte diese "Zeitung" jetzt unter der Rubrik "nichts für mich, kann wech" abhaken, wenn das Blättchen nicht mit einer sozialen Botschaft um die Ecke käme: Die Herausgeber haben sich ernsthaft um die Lebenssituation der älteren Mitbürger Gedanken gemacht. Ich finde das ganz reizend. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautet nämlich: "Verkauf der Immobilie im Alter - Wenn sich die Bedürfnisse ändern". Im Text werden
Lizzy, melde dich, wenn dir Buckingham Palace zu groß wird. 😎
verschiedene Szenarien aufgezählt, denen alte und ältere Eigentümer von Wohnimmobilien ausgesetzt sind, von A wie "altersgerechter Umbau nötig" bis Z wie "Zeitgewinn durch Wegfall der Gartenpflege". Wenn Leser bei mindestens einem Beschwernis unwillkürlich zustimmend mit dem Kopf nicken, stehen ihnen die Berater des hessischen Unternehmens bei der Einschätzung des Marktwertes ihres Eigenheims hilfreich zur Seite. Kostenlos und unverbindlich.

Irritierend fand ich allerdings die Diskrepanz zwischen den üblichen hohen (Preis-)Standards der gezeigten Offerten und unserem Wohngebiet. Hier wohnen zwar viele Senioren, die ihre Häuser vor mehr als 50 Jahren bezogen haben, aber darunter sind keine Menschen mit einem ungewöhnlich guten Einkommen. Ein paar hatten bis zu ihrem Renteneintritt vor 25 oder mehr Jahren kleinere Leitungsfunktionen bei mittelgroßen Unternehmen, es sind auch mehrere ältere Witwen darunter. Die Mehrzahl der Häuser ist abbezahlt; die anderen gehören Familien, die erst vor ein paar Jahren eingezogen sind. Marktforschung wurde sicher nicht betrieben, bevor man die "Zeitung" in unserem Viertel verteilt hat. Hier leben stinknormale Leute, die sich kein goldfarbenes Sofa im Rokoko-Stil ins Wohnzimmer stellen oder eine Kugelleuchte für 1.800 Euro aufhängen würden, wie sie in den Werbeannoncen zu sehen sind. Mal ganz abgesehen davon, dass die meisten Kaufinteressenten zwischen 200.000 und maximal 400.000 Euro für ihr Haus ausgeben wollen (Quelle: ZEIT & Immobilienscout24.de). Wenn ich mir also diese bunten Seiten ansehe, die jemand bei uns und unseren Nachbarn eingeworfen hat, kommt es mir ein bisschen so vor, als würde ich in eine andere Welt schauen. Und ich stelle fest, dass die "Experten", die dieses Blatt konzipiert haben, unter einem gewissen Realitätsverlust leiden. Hier sind sie nicht, die potenziellen Kunden, die bei den Worten "Preis auf Anfrage" zum Telefon greifen und nähere Informationen erbitten.

Nachdem ich die "Zeitung" ins Altpapier befördert habe, werde ich etwas ganz anderes tun. Da es einzelne Menschen gibt, die offenbar nicht damit leben können, dass in ihrer Nähe jüdische Mitbürger wohnen und die ihnen das Leben schwermachen wollen, indem sie versuchen, ihnen das Eigenheim anzuzünden, nehmen wir heute an einer Mahnwache in unserem Ort teil. Ich hoffe, dass viele Leute dort sein werden. Ich werde berichten.

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