Organspende

Gestern habe ich im Radio gehört, dass es 2018 erstmals seit 2010 wieder einen Anstieg der Organspenden gegeben hat. Konkret waren es 995 und damit 20 % mehr als 2017.

Ich habe über die Frage, ob ich mich um einen Organspendeausweis kümmern sollte, immer wieder nachgedacht. Seit vielen Jahren schon. Als ich kurz davor war, mich dafür zu entscheiden, kam diese unselige Geschichte mit dem Transplantationsarzt in Göttingen, der unter Umgehung der Transplantationsrichtlinien die Prioritätenliste manipuliert hatte, dazwischen. Das war 2012, auch Kliniken in Regensburg und München waren betroffen, wie sich dann herausstellte. Die dortigen Ärzte hatten Krankenakten gefälscht, damit von ihnen ausgewählte Patienten in der Warteliste ganz nach vorn rutschten. Der Göttinger Arzt wurde letztendlich vom Vorwurf des versuchten Totschlags und der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge frei gesprochen. Ich glaube, ich war mit meinen Zweifeln bezüglich des "Vergabesystems" nicht allein.

Ich verstehe die Not, in der sich todkranke Patienten und ihre Angehörigen befinden. Ein fremdes, gesundes Organ ist oft der letzte Strohhalm, die letzte Hoffnung für ein Weiterleben in hoffentlich guter Gesundheit. Diese Menschen durchleiden die schiere Todesangst.
Aber ich habe auch Angst. Angst vor der Vorstellung, selbst in einem Krankenhausbett zu liegen und als hirntot eingestuft worden zu sein. Diese Diagnose gibt es übrigens weniger Jahre, als ich bereits lebe, nämlich seit 1968. Sie ist nichts als ein Konstrukt, eine Krücke sozusagen, um so etwas wie einen Startschuss für eine Organentnahme für eine Transplantation geben zu können, die erst seit damals möglich ist.

Seit 2007 gibt es den Deutschen Ethikrat. Auf der Grundlage des Gesetzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats haben die 26 Mitglieder den Auftrag, die "ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft" einzuschätzen und die Bevölkerung hierüber zu informieren. Sogar dieses Expertengremium ist sich nicht darüber einig, ob ein Hirntoter auch tot ist. 

Minister Spahn will mit der Widerspruchslösung erreichen, dass künftig mehr Spenderorgane zur Verfügung stehen. Wer sich also nicht ausdrücklich gegen eine Organspende ausspricht, soll nach seiner Vorstellung automatisch ein potenzieller Spender sein. In Belgien, Luxemburg, Lettland, Malta, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn ist das bereits so. Wenn Ihr also dort Urlaub macht und so schwer verunglückt, dass ihr als hirntot geltet, ist es dort bereits jetzt möglich, dass Ihr zu Organspendern werdet, obwohl ihr das nicht vorhattet oder noch unentschlossen gewesen seid. In Frankreich, Schweden, Lettland, Liechtenstein und Zypern müssen die Angehörigen über die geplante Entnahme informiert werden, dagegen Einspruch erheben können sie aber nicht.

Ich habe mich schon mit verschiedenen Menschen sowohl über die Frage der Organspende als auch die Widerspruchslösung unterhalten. Letztere überzeugt mich allerdings nicht: Viele Fachleute sehen einen Hirntoten nicht als Toten, sondern als Sterbenden an. Der Eingriff der Organentnahme ist der größtmögliche, den man an einem Menschen vornehmen kann und besiegelt unwiderruflich dessen Lebensende. Für weit weniger braucht es jedoch die Zustimmung eines Patienten: Kein Arzt darf ohne meine Unterschrift an mir eine OP durchführen, wenn es sich nicht um eine akute Notfallsituation handelt. Alles andere wäre eine Körperverletzung und könnte strafrechtlich verfolgt werden. Sogar, wenn mir jemand unverlangt Waren zusendet, muss ich darauf nicht reagieren, sondern darf diese Dinge ohne eine Begründung behalten oder wegwerfen. Es ist dabei völlig egal, wie wertvoll sie sind. Wenn sich Herr Spahn mit seinem Gesetzesvorhaben durchsetzt, wird die Organspende meines Wissens der einzige Sachverhalt sein, an dem sich die Vorzeichen unseres bislang geltenden Rechtsverständnisses umkehren. Und das, obwohl zwar nicht mit Organen gehandelt, aber unter bestimmten Umständen für menschliches Gewebe Geld gezahlt werden darf.

Sehr nachdenklich haben mich drei Fälle von Patienten gemacht, von denen ich kürzlich gelesen habe: Der eine ist der der Amerikanerin Julia Tavalaro, die 1966 mit Anfang 31 in einen Zustand fiel, der je nach Quelle als Hirntod, Koma oder Locked-In-Syndrom bezeichnet wird. Sechs Jahre lang lag sie reglos in einer Klinik, bevor auffiel, dass sie Reaktionen zeigte. 
Im Mai 2018 berichtete die Tageszeitung DIE WELT von einem 13-Jährigen in den USA, der nach einem Unfall als hirntot gegolten hat und dessen Eltern sich bereits für eine Organspende entschieden hatten. Einen Tag vor der OP zeigte er jedoch wieder Vitalzeichen: Die Gehirnströme zeigten wieder Leben, er hatte einen Fuß und einen Arm bewegt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das Krankenhaus von einem Hirntod gesprochen hatte, ohne zuvor eine entsprechende Diagnostik durchgeführt zu haben.
Eine solche Panne hatte es im Dezember 2014 auch in einem Bremerhavener Krankenhaus gegeben. Der als hirntot eingestufte Patient lag bereits mit geöffnetem Bauchraum auf dem OP-Tisch, als jemandem auffiel, dass man vergessen hatte, die vorgeschriebenen Untersuchungen durchzuführen, ohne die niemand zu einem Organspender werden darf. Die OP wurde daraufhin abgebrochen. Da man bei einem Hirntod jedoch davon ausgeht, dass ein Mensch keine Schmerzen mehr empfinden kann, wird üblicherweise nur eine geringe Dosis Narkosemittel gegeben (siehe unten). 

Dieser Fall war für einige Fachleute Anlass, erneut die Fachkunde der Ärzte bei einer Hirntoddiagnose zu kritisieren. In ihrer Ausbildung wird sie nicht ausreichend vermittelt, sodass es immer wieder zu Fehlern kommt, wie es ein Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Januar 2015 schildert. Der Artikel spricht von weiteren Fehldiagnosen, die sich zwischen 2011 und 2013 ereignet haben.
Wie ich in einem Buchausschnitt gelesen habe*), werden bei einem großen Teil der Entnahme-OPs geringe Mengen Schmerzmittel gegeben. Der Grund: Etwa drei Viertel der Patienten reagieren auf die Entnahme mit Bewegungen und einem ansteigenden Blutdruck und Puls. Auch das Einleiten der kalten Nähr- und Konservierungsflüssigkeit löst Reaktionen aus. Dieses Buch ist zwar schon 2009 herausgekommen, doch ich sehe keinen Grund, warum sich an dieser Quote etwas geändert haben sollte. Aber wenn ich das lese, läuft es mir kalt den Rücken runter.

Es ist unstrittig, dass es zu viele Menschen gibt, die auf ein Spenderorgan warten müssen - oft so lange, dass ihr Tod eher da ist als ein lebensrettendes Organ. Aber woran es mangelt ist das Vertrauen, dass alles mit rechten Dingen zugeht: bei der Hirntoduntersuchung und der Vergabe. Helfen zu wollen ist eine Sache - das dürfte grundsätzlich der Wunsch einer großen Zahl von Menschen sein. Aber der Sterbende hat denselben Schutz und dieselbe Sorgfalt verdient wie der Patient, der ein Organ benötigt. Ich möchte, dass ein sterbender Mensch - und dabei gehe ich jetzt optimistisch von einer zutreffenden ärztlichen Einschätzung aus - sowohl vor als auch nach der Hirntoddiagnose nicht als Ersatzteillager gesehen wird, sondern ihm bis zum Schluss Würde widerfährt. Wenn ich mir das, was ich bisher zu diesem Thema gelesen habe, vor Augen führe, mache ich mir Sorgen, ob diese Maßstäbe in jedem Krankenhaus angelegt werden.

Ich hatte, als ich diesen Blog gestartet hatte, versprochen, dass meine Artikel in maximal drei Minuten gelesen werden können. Darum stoppe ich an dieser Stelle mit diesem Thema. 😉


*) Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Hrsg. Cornelia Klinger, Böhlau Verlag Wien/Akademie Verlag Berlin, 2009




Kommentare

  1. Hallo, danke für diesen ausführlichen Artikel. Die Widerspruchslösung von Spahn finde ich unsäglich und ich frage mich dabei, ob er je darüber nachgedacht hat, dass er selbst mal in eine solche Situation geraten könnte.

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    1. Hallo Anonym, man guckt ja jedem nur bis vor die Stirn, aber ich behaupte, er hat in erster Linie seine eigene Karriere im Kopf und will sich als "Problemlöser" profilieren. Dabei kann er sich auf prominente Unterstützer wie z. B. Dr. E. von Hirschhausen oder Karl Lauterbach (SPD) verlassen. Insbesondere bei Hirschhausen vermute ich, dass er bei seinem Publikum so viele Sympathiepunkte eingesammelt hat, dass viele die Organspende nur als wohltätigen Akt begreifen; so wird sie ja auch ununterbrochen beworben. Die wichtigste Person - der Organspender - gerät dabei allerdings meiner Meinung nach zu sehr aus dem Blick.

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