"Du" - zu viel Nähe oder normal?

Wer sich umsieht, merkt: Der Trend geht weg von der förmlichen Anrede "Sie" und hin zum vertraulichen "Du". Ich glaube, dass das vielen Menschen egal ist, mir aber nicht.

Wenn man sich in sozialen Netzwerken mit anderen Leuten unterhält, ist das "Du" üblich. Dort interessiert es niemanden, ob zwischen den Gesprächspartnern 60 Lebensjahre liegen und ob der eine Gutverdiener und der andere arbeitslos ist. Meistens jedenfalls. Aber wenn dort mal wieder eine Diskussion ausartet und die ersten Beschimpfungen fallen, fällt mir diese Redewendung ein: Es sagt sich leichter "Du Arschloch!" als "Sie Arschloch!". Da ist oft etwas dran.
Auch in gefühlt 99 Prozent der Blogs wird geduzt, auch in diesem. Das war, glaube ich, schon immer so. Oder kennt Ihr einen Blog, wo das anders gehandhabt wird?


Dann gibt es da noch das Duzen von Firmen gegenüber ihren
"Hej!"
(potenziellen) Kunden. Das bekannte schwedische Möbelhaus, das seine Filialen in 25 Ländern betreibt, ist dafür bekannt, seine Kunden zu duzen. In Schweden macht man das seit den 1960-er Jahren so, dort werden nur die Mitglieder des Königshauses förmlich angesprochen. Ich gehe aus verschiedenen Gründen schon seit Jahren nicht mehr in diese Läden, fand das aber irgendwie auch früher nicht so ganz passend. Da ich mich mal mit dem Geschäftsgebaren des mittlerweile verstorbenen Firmengründers beschäftigt habe, sehe ich das "Hej" gekoppelt mit dem "Du" als verkaufsfördernde Anbiederung, die dazu dient, den Umsatz zu steigern. So, als ob Kunden nicht von einem Unternehmen, sondern von einem guten Freund angesprochen werden würden.

Das gilt auch für andere Firmen, die in der Ansprache ihrer Kunden auf das "Sie" verzichten. Sie meinen es nicht gut mit mir, sondern mit sich.

Als ich 1989/1990 meine erste Stelle antrat, war der direkte Kollegenkreis altersmäßig sehr gemischt: Es gab außer mir noch zwei oder drei Kollegen in meinem Alter, die älteste Kollegin war 25 oder 30 Jahre älter als ich. Sie gehörte zu den besten Kollegen, die ich während meiner Berufstätigkeit hatte, den Kontakt zu ihr gibt es bis heute. Sie hat damals den sehr wahren Satz gesagt, dass die Anrede nichts über die Güte des Verhältnisses zwischen zwei Menschen aussagt. Sie hat mir erst vor zwei Jahren, als wir uns nach so langer Zeit zum ersten Mal wiedergesehen haben, das "Du" angeboten. 

Ich hatte kürzlich über einen Kollegen geschrieben, den ich
als faul und träge bezeichnet habe. Er war so alt wie ich und eine ganze Weile sehr daran interessiert, einen guten Kontakt zu mir aufzubauen. Anders ausgedrückt: Er war Single und wollte nicht, dass das so bleibt. Er, über den ich eine sehr schlechte Meinung hatte, hat immer wieder versucht, unser Verhältnis dadurch zu verbessern, indem er mich "versehentlich" duzte. Es war für mich klar, dass er es als Türöffner betrachtet hätte, wenn ich darauf eingegangen wäre. Also habe ich das ignoriert und ihn ausdauernd gesiezt. Das hat ein bisschen geholfen, ihn auf Abstand zu halten.

Haltet mich für spießig oder sturzkonservativ, aber für mich ist die Anrede oft auch ein Mittel, um für eine gewisse Distanz zu sorgen: weil ich jemanden nicht zu nahe an mich herankommen lassen will oder weil ich den Eindruck habe, dass ein Gespräch sachlicher verläuft, wenn man beim "Sie" bleibt. Ich möchte frei entscheiden können, wie ich angesprochen werde.
Während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, wie es das schwedische Möbelhaus wohl in Frankreich macht? Soweit ich weiß, ist das schnelle Duzen dort ziemlich verpönt. Ist das "Hej" dort geschäftsschädigend oder akzeptiert? Auch in Japan ist das Unternehmen vertreten, in einem Land mit strengeren Vorstellungen von gutem Benehmen als hier. Vielleicht weiß ja jemand von Euch, wie das dort gehandhabt wird.
 

Kommentare