Dreibeinige Irritation

Jeder gehört zu irgendeiner Gruppe. Zu den Vegetariern, den Anglern, Handballern, Briefmarkensammlern, Eltern, Autofahrern und was euch noch so einfällt. Jeder ist in mehreren Gruppen: Man ist nicht nur Mutter oder Vater, sondern vielleicht auch Dachdecker, Astronomiefan oder Schnellstricker. Wenn man sich einer Gruppe zuordnet, interessiert man sich für Dinge, die sie betreffen und wird aufmerksam, wenn sich etwas tut.

Da bin ich keine Ausnahme. Ich gehöre unter anderem zur
Gruppe der Dreibeinigen, also Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung (klingt besser als Behinderung, oder?). Weil das so ist, reagiere ich in irgendeiner Weise, wenn ich etwas Neues erfahre. Vor einer Woche habe ich bei Twitter quergelesen und traf auf den Tweet einer Redakteurin, die für eine deutsche Wochenzeitung tätig ist. Sie warb darin für die neueste Ausgabe eines Ablegers dieser Zeitschrift, die sich an Kinder von acht bis dreizehn Jahren richtet. Auf dem Cover sieht man ein Mädchen mit Down-Syndrom, das in die Kamera lacht. Der Tweet hatte den Text: "Unsere Ausgabe über Kinder mit Behinderung. Unser wunderschönes Model Sara ist 10 und hat das Downsyndrom." Das Heft wird mit der Aussage beworben, dass man zeigen will, "wie Kinder mit einer Behinderung leben, womit sie zu kämpfen haben und worin sie stark sind". Mal ehrlich: Wie findet ihr das? Super, weil behinderte Kinder im Mittelpunkt stehen? 

Sara kommt aus Großbritannien, was die Frage aufwirft, ob man in Deutschland kein Kind mit Trisomie 21 gefunden hat, über das ein Porträt hätte geschrieben werden können. Der nächste Gedanke: Zu modeln ist nicht nur für einen Menschen mit einer Behinderung ungewöhnlich, sondern für fast jeden. Warum zeigt man den deutschen Kindern, denen man doch das Leben von behinderten Gleichaltrigen näherbringen will, wie es sich ganz stinknormal mit Down-Syndrom lebt?
Und dann der dritte Gedanke: Wenn immer und überall von Inklusion die Rede ist, warum muss ich ein Kind allein deswegen hervorheben, weil es eine Behinderung hat? Ist es dann etwas Besonderes? Inklusion ist schließlich die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an allen Aktivitäten. Um es mal ein bisschen auf die Spitze zu treiben: Mit der Begründung, eine Randgruppe unterstützen zu wollen, könnte ich mir zum Beispiel auch die Rothaarigen herausgreifen. Lächerlich? Ach nein. Man schätzt, dass in Deutschland 3 bis 5 % der Bevölkerung rote Haare hat; Schätzungen besagen ebenfalls, dass in Deutschland etwa 5 % aller Kinder als behindert gelten. Rothaarige haben im Vergleich zu den Trägern anderer Haarfarben unter den meisten Nachteilen zu leiden. Ihre Haut ist sehr lichtempfindlich, wodurch sich das Hautkrebsrisiko drastisch erhöht. Rothaarige Menschen empfinden außerdem Kälte- und Hitzereize stärker. Kein Mensch kommt aber auf die Idee, eine Titelstory über Rothaarige zu machen. Warum auch.

Ich gebe zu, dass mich dieser Tweet befremdet hat. Darum konnte ich mir den Kommentar nicht verkneifen, dass es mir noch lieber wäre, wenn die behinderten Kinder ganz selbstverständlich in Zeitschrifteninhalte integriert würden. Die Antwort der Redakteurin: Sie hat dafür Verständnis, möchte das Thema aber auch mal lauter setzen. 
Ich konnte an dieser Stelle leider kein Verständnis mehr entwickeln. Was soll denn "lauter setzen" genau bedeuten? Man macht da mal ein Heft "über Behinderte" und greift sich ausgerechnet ein britisches Model mit Trisomie 21 heraus? Ja, jetzt haben die deutschen Kinder, die den Text gelesen haben, sicher eine genaue Vorstellung davon, wie es sich so lebt als behindertes Kind. Dabei sollte es doch kein Problem sein, die wodurch auch immer eingeschränkten Kinder in einer normalen Umgebung darzustellen, wie sie für die allermeisten von ihnen aussieht: zu Hause, beim Einkaufen, als eines unter vielen anderen Kindern in der Kita, der Schule oder beim Sport. Das geht mit Texten und mit Fotos. Hier, bei diesem Text, habe ich jedoch nicht den Eindruck,  dass sich jemand über die Wirkung des Artikels ernsthafte Gedanken gemacht hat. Inklusion kann doch nur heißen, so viel Teilhabe wie möglich zu erreichen, damit Menschen so gut es geht an einem normalen Leben in der Gesellschaft teilnehmen können. So, wie die Aktivistin und Schauspielerin Carina Kühne, die ihr hier rechts im Bild seht. Nein, sie ist natürlich kein Kind mehr, war es aber. Wie ich. Diesen Hinweis hatte ich der Redakteurin ebenfalls gegeben.


© gesellschaftsbilder.de/weiland_41



 

Kommentare

  1. Jeder Mensch ist anders. Die einen stehen gerne im Mittelpunkt, während andere gerne im Hintergrund bleiben. Ob man eine Zeitschrift extra für behinderte Menschen haben muss? Ich finde: Nein. Für mich sind alle Menschen gleich, egal ob mit Handicap oder nicht.
    Im Übrigen kaufe ich sowieso keine Zeitschriften. Beim Friseur oder im Wartezimmer eines Arztes blättere ich schon mal darin. Lieber gebe ich mein Geld für ein gutes Buch aus.
    Meine Eltern haben uns Kinder zur Toleranz erzogen. Das heißt, man starrt Menschen nicht an, auch wenn sie anders sind als wir. Man ist hilfsbereit und akzeptiert auch andere Meinungen. Danach lebe ich immer noch, auch wenn meine Kindheit schon -zig Jahre zurückliegt.
    Freundliche Grüße von der Pfälzerin

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    1. Das mit der Toleranz ist eine sehr gute Haltung. Ich halte so einen Schwerpunkt auch für überflüssig. Erst wenn mit Behinderten so normal und selbstverständlich umgegangen wird wie mit jedem anderen Menschen, erreichen wir eine Inklusion. Ich habe den Link zum Text auch bei Twitter gepostet, von der Zeitschrift jedoch leider keine Reaktion erhalten. Auch das spricht für sich: Offenbar hat man an einer Diskussion über die Sinnhaftigkeit dieses Hefts kein Interesse. Schade, denn nur durch Austausch lernt man voneinander. Zum Thema Starren: Darüber habe ich einen Artikel geschrieben, als dieser Blog noch taufrisch war. Und ich habe über ihn eine Schulfreundin wiedergefunden. Wenn er dich interessiert: https://dastaeglichegruseln.blogspot.com/2018/08/ist-gucken-erlaubt.html

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