Bis zum bitteren Ende?

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Es gibt Momente, da glaubt man kurz, man leide unter Wahrnehmungsstörungen. Zum Glück gehen sie rasch vorbei. Heute Abend gab es so einen Moment.

Ich habe mich hier ja schon ein paar Mal über unseren Nachbarn ausgelassen. Ihr wisst schon, diese Nervensäge. Wir haben glücklicherweise aber auch Nachbarn, die sehr nett oder doch wenigstens in Ordnung sind. Zumindest in ihrer Eigenschaft als Nachbarn. Die Älteste in diesen Häusern ist Frau B., eine Witwe, die Mitte 90 ist und schon so lange allein lebt, dass ich ihren Mann, als ich vor über zwanzig Jahren hier eingezogen bin, nicht mehr kennengelernt habe. Sie wohnt in einem Haus direkt neben uns und hat ihre Garage in derselben Reihe, in der auch unsere ist. Mit Schaudern beobachte ich seit Jahren nicht nur, dass sie noch Auto fährt, sondern auch wie: Sie klammert sich an das Lenkrad und es ist deutlich zu sehen, dass ihr die Übersicht völlig fehlt und sie überfordert ist. Leider gibt es in ihrem Leben niemanden mehr, der ihr sagen würde: "Nun ist es gut, gib mal deinen Lappen ab, bevor du noch dich oder andere totfährst." Sie ist ansonsten körperlich so gut drauf, dass man fast neidisch werden könnte: Sie geht ohne Gehhilfe kerzengerade und macht das meiste zu Hause noch allein. Aber vom Autofahren kann sie offenbar nicht lassen.

Heute saß ich nun mit meinem Mann in einem Bistro in einem südlichen Stadtteil von Hannover, der ganz in der Nähe unserer benachbarten Kleinstadt liegt. Das Bistro befindet sich in einer Wohngegend mit mäßigem Verkehr. Mit dem Auto brauchen wir etwa fünf Minuten bis nach Hause. Es war schon dunkel, als sich die Tür öffnete und Frau B. aufgeregt das Lokal betrat. Sie ging sofort auf die Herren zu, die an der Bar vor ihrem Bier saßen und sprach sie an. Dabei kam heraus, dass sie von Hildesheim aus auf dem Weg nach Hause war; das sind ungefähr dreißig Kilometer, die längste Strecke davon auf der A7. In Hannover hatte sie sich nun verfahren - wohlgemerkt: Sie hatte es nicht mehr weit und wohnt schon seit über fünfzig Jahren in dem Haus neben uns - und hatte auf ihrer Suche zufällig das helle Licht im Bistro gesehen. Ob ihr jemand sagen könne, wie sie von hier wieder nach Hause käme? 
Ehe ihr jetzt sagt: 'Ihr hättet ihr doch helfen können, nach Hause zu fahren', muss ich klarstellen, dass das nicht gegangen wäre. Ich fahre keine Schaltwagen wie ihren mehr und mein Mann durfte heute aus medizinischen Gründen nicht Auto fahren. Und ich bin mir sicher, dass ihr das hochgradig peinlich gewesen wäre, wenn sie uns erkannt hätte.
Der Herr von der Bar, der mit ihr nach draußen gegangen war, um ihr den Weg nach Hause zu erklären, kam mit über den Kopf zusammengeschlagenen Händen wieder zurück: Die Seniorin hatte nicht etwa in einer der Parkbuchten geparkt, sondern ihr Auto kurzerhand auf den Fußweg direkt vor die Lokaltür gefahren. Als sie wegfuhr, drehten sich alle Köpfe an der Fensterseite um, um das Schauspiel zu beobachten. Wir haben uns gefragt, wann ihr die Einsicht kommt, auf ihr Auto zu verzichten.

Ein anderer Nachbar, der etwa Mitte 80 ist, hatte seinen Kombi schon sehr lange gefahren, als eine teure Reparatur ins Haus stand. Auch er hatte im Alter eine abenteuerliche Fahrweise entwickelt, die ihn zur Einsicht hätte bringen müssen. Weil ihm die Reparatur an seinem alten Wagen zu teuer war, beschloss er, sich ein neueres Auto zu kaufen. Bevor es dazu kam, ist er mit seinem alten Fahrzeug an einem regnerischen Abend auf der Straße am Maschsee entlanggefahren und hat ein auf der rechten Seite parkendes Fahrzeug übersehen. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, aber sein Auto hatte nun einen Totalschaden. Einer seiner Söhne hat dann gesagt: "Papa, das war es jetzt mit dem Autofahren", womit er seinem Vater und allen anderen Verkehrsteilnehmern einen Gefallen getan hat. So einen Menschen gibt es im Umfeld von Frau B. leider nicht.

Sich auch im hohen Alter trotz verringerter Fahrtüchtigkeit an seinen Führerschein zu klammern, ist, wie ich es schon mehrmals gelesen habe, vor allem unter Männern weit verbreitet. Aber letztendlich ist jeder, der die Straßen unsicher macht, weil er nicht mehr in der Lage ist, den Verkehr zu bewältigen, ein Risiko. Was spricht dagegen, ab einem bestimmten Alter die Verkehrstüchtigkeit von Autofahrern zu überprüfen?

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