Wie ist das mit dem Erwachsenwerden?

© Andrea Damm/pixelio.de
Ein Bericht in unserer Tageszeitung wird in der heutigen Wochenendausgabe auf der ersten Seite mit einem Foto angekündigt. Auf dem Bild sieht man einen Jungen vor seinem Essen, im Hintergrund sind weitere Kinder zu erkennen. Der Artikel trägt den Titel: "Was darf er noch essen?" Es geht um einen Caterer, der mit der Mittagsverpflegung einer hannöverschen Schule beauftragt wurde und jetzt die Nase voll davon hat, dass für immer mehr Kinder gluten- oder lactosefreies Essen bestellt wird. Statt der üblichen elf oder zwölf speziellen Portionen in einer Schule sind es jetzt plötzlich an bestimmten Tagen zwischen 90 und 110. Dass der Caterer damit ein Problem hat, ist nachvollziehbar: Die Bezahlstruktur sieht solche großen Mengen an teurerem Essen nicht vor. Für die Vervielfachung dieser Bestellung bietet sich nur eine Begründung an: Besorgte Eltern, die mutmaßlich Schädliches von ihrem Nachwuchs fernhalten wollen, haben da ihr Kreuz an der entsprechenden Stelle des Speiseplans gemacht.

Wir wohnen am Ende einer Straße, die auf unserer Höhe zu einer Sackgasse wird. Nur ein paar Meter von unserem Haus entfernt ist die Grundschule, die auch meine Kinder besucht haben. Seit mehr als 20 Jahren habe ich das zweifelhafte Vergnügen, die Entwicklung des Elternverhaltens zu beobachten. Obwohl für die Kinder, die in den benachbarten Ortsteilen wohnen, ein Schulbus zur Verfügung steht und die allermeisten anderen die Schule zu Fuß erreichen können, fahren zahllose Eltern mit dem Familienauto vor, gern bis direkt vor das Schultor. Die vom Tag erschöpften Kinder werden nach Schulschluss selbstverständlich an derselben Stelle auch wieder abgeholt. Die Zahl der gehbehinderten Kinder scheint sich seit meiner Kindheit verfünft- oder versechsfacht zu haben.

Ach ja, Schule... Einmal jährlich ziehen bei uns die
© Rike/pixelio.de
Einschulungskarawanen vorbei. Als meine Kinder eingeschult wurden - das ältere Kind im Jahr 2000 -, war es nur eine Karawane. Die Kinder wurden von ihren Eltern, Geschwistern und eventuell auch von den Großeltern begleitet. Jetzt wird die Einschulungsfeier zweimal durchgeführt. Nicht, weil sich die Zahl der Erstklässler verdoppelt hätte, sondern die Zahl der Begleiter sprengt den Rahmen unserer Grundschule. Wenn ich mich umhöre, erfahre ich außerdem, dass die frisch eingeschulten Kinder nicht nur ihre Zuckertüte bekommen, sondern dass man das Ereignis anschließend in einem Umfang feiert, der stark an Familientreffen zu Weihnachten erinnert, entsprechend üppige Geschenke inklusive.


Gestern habe ich in einem sozialen Netzwerk einen Beitrag gesehen, der sich an die "Mamis" richtete. Mal abgesehen davon, dass sich mir schon bei dieser Art der Ansprache die Nackenhaare aufstellen, passte der Inhalt gut zu dem Brimborium, der um das "Projekt Kind" gemacht wird. Mit dem Aufruf "Mamis, wie weit seid ihr mit den Vorbereitungen für den Adventskalender? Langsam sollten wir uns Gedanken machen. Wie sieht es bei Euch aus?" wurden Mütter an ihre "Pflichten" erinnert. 

In diesem Sommer habe ich viel Zeit im Garten verbracht. Wenn ich dort sitze und schreibe, kann mich von der Straße aus niemand sehen. Nach Schulschluss stellen sich dann gern mal Mütter, die gerade ihre Kinder in ihre Familiengeländewagen verladen haben, an unsere Grundstücksecke und unterhalten sich über das, was in letzter Zeit in der Schule so passiert ist. Meistens geht es um Nickeligkeiten: Der hat den geschubst, die hat den beleidigt... Die Erzählungen werden in einem Tonfall geführt, als habe es sich um Attentate gehandelt.

Aber der Knaller ist das hier: Verschiedene Unis, darunter die Goethe-Universität Frankfurt und die Universität Bielefeld, bieten Uni-Führungen für Verwandte. Die TU Berlin veranstaltet Elternabende, die Uni Freiburg macht einen Erstsemester-Familientag für die ganze Verwandtschaft - von der Mami (hier gehört das Wort absolut hin) bis zur Oma.

Wo ist die Tüte mit den Wattebäuschen?

Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich habe
selbst Kinder. Diejenigen von Euch, die hier schon mitgelesen haben oder mich sogar persönlich kennen, wissen das. Und ich bin der Meinung, dass eine der wichtigsten Aufgaben, die Eltern haben, ist, ihre Kinder zu selbstständigen und halbwegs organisierten Menschen zu erziehen, die in der Lage sind, ihr Leben zu meistern, ohne dass Mami oder Papi ihnen ständig die Hand vor den Hintern halten. Dazu gehören Liebe, Geduld, Konsequenz und Zeit, die man mit ihnen verbringt und in der man sich ihnen zuwendet. Die meisten Eltern aus meiner Generation haben das zu Hause auch so erfahren. Da wurde aus einem aufgeschlagenen Knie kein Drama gemacht: Wunde reinigen, desinfizieren, Pflaster drauf und Feierabend. Was eine Lappalie war, wurde auch so behandelt.

Mein Adventskalender war dieses Modell mit 24 Schoko-Figürchen drin, das für Heiligabend war ein bisschen größer. Meine Freundinnen hatten den auch. Heute wird sogar davon ein irrer Aufriss gemacht. Wofür? Machen das die Mütter - das ist ja wohl die Regel - darum, damit sich ihre Kinder freuen, oder um sich selbst in ihrer Mutter-Rolle zu bestätigen oder bestätigt zu fühlen? Ist diejenige Frau eine bessere Mutter, die Abende damit verbringt, einen Adventskalender zu basteln? Und: Üben solche Aufrufe wie der oben genannte nicht vielleicht auch einen gewissen Druck auf die Mütter aus, denen am Basteln nichts liegt, die aber den Eindruck haben, dass das dazu gehört, wenn man eine gute Mutter sein will? Ernsthaft: Wenn Ihr zu dieser Bastelei keine Lust oder Zeit habt, lasst es sein. Entspannte Eltern sind wichtiger.

Und wie ist das mit dem Essen? In meinem Elternhaus wurde grundsätzlich gegessen, was auf den Tisch kam. Meine Eltern waren aus der Kriegsgeneration, da wurde nicht um jede Befindlichkeit ein Geschiss gemacht. Ich musste nicht alles essen, aber dieses auf-dem-Teller-Gestochere wurde nicht geduldet. In einer etwas milderen Variante habe ich das mit meinen Kindern auch so gehandhabt. Auch sie mussten nicht alles essen und wurden nicht zum Aufessen gezwungen, aber dass jede Woche etwas Anderes bemäkelt wurde, was in der Vorwoche noch völlig okay war, habe ich nicht durchgehen lassen.

Zu meiner Einschulung sind meine Eltern mitgegangen, mein Bruder hat hinterher von mir ein Foto im Vorgarten gemacht. Es gab anschließend keine Familienfeier; nicht bei uns und auch bei keinem anderen Erstklässler. 
Während unserer Schulzeit haben wir die Streitigkeiten mit unseren Mitschülern selbst geregelt. Von den meisten erfuhren unsere Eltern gar nichts. Auch auf die Idee, sich neben ihre Kinder zu setzen und mit ihnen zusammen Referate auszuarbeiten, sind keine Eltern, die ich von damals kenne, gekommen. Dass es Ärger gab, wenn die Noten absackten, war keine Frage, aber was da in der Schule passierte, war unsere Leistung und nicht eine Co-Leistung von Müttern oder Vätern mit ihren Kindern.
Niemand - und das meine ich wörtlich - brachte sein Kind mit dem Auto in die Schule. Alle Grundschulen in meinem Heimatort lagen so, dass sie auch von den jungen Schülern zu Fuß erreicht werden konnten. Zu den weiterführenden Schulen fuhr man bei jedem Wetter mit dem Fahrrad oder, wenn das zu weit war, mit dem Linienbus. Ich habe diese Phasen gehasst, in denen ich gefahren werden musste, weil ich gerade mal wieder ein paar Monate an Gehstützen unterwegs war und ein Bein nicht normal belasten durfte. Alle anderen fuhren zusammen nach Hause, quatschten über alles, was am Tag passiert war und verabredeten sich für den Nachmittag.

Zur feierlichen Übergabe der Abi-Zeugnisse in der Aula unserer Schule ist nur meine Mutter mitgekommen. Damals wurden warme Reden gehalten, es spielte eine Schülerband, dann gab es ein letztes Händeschütteln mit unserem Schulleiter. Das war überall so, niemand feierte einen Abi-Ball, für den hohe Eintrittsgelder hätten gezahlt werden müssen und bei dem sich die Schüler so aufbrezeln, als wären sie die Ehrengäste einer Traumhochzeit.
Niemals wären Eltern früher auf die Idee gekommen, sich die Uni anzusehen, an der ihre Kinder studieren. Der Beginn von Ausbildung oder Studium war der größte Schritt im Leben von jungen Menschen, sich von zu Hause abzunabeln und ihren eigenen Weg zu gehen. Mit allen Erfolgen und Rückschlägen, die dieser Weg bereithält.

Heute wird um Kinder eine irre Aufregung veranstaltet. Ich frage mich, was sich diese überbehütenden und ihre Kinder überreich beschenkenden Eltern für ihren Nachwuchs wünschen. Dass aus ihnen Erwachsene werden, die mit beiden Beinen im Leben stehen und auch mal Rückschläge aushalten, ohne im Tal der Tränen zu versinken? Wenn Kinder so in Watte gepackt werden, wie ich das immer mehr erlebe, wird das nichts. Und das finde ich für die Zukunft unserer Gesellschaft besorgniserregend. 
 

Kommentare