Kraft tanken mit...?

Den gestern begonnenen Text, der sich mit dem sogenannten "Waldbaden" beschäftigt hat, setze ich heute mit etwas fort, das ich mit mindestens demselben Unverständnis gelesen habe.

Mit ist der Begriff "Kraftkarten" jetzt zum ersten Mal
untergekommen. Darauf stehen kurze Botschaften, die den Empfänger inspirieren, trösten oder ihn sonstwie positiv beeinflussen sollen. Sie haben ihren Namen also nicht darum, weil sie so schwer sind, dass man sie kaum heben kann. Das Wort ist mir beim Blick in eine Zeitschrift begegnet, die sich ganz allgemein mit dem Wohlfühlen beschäftigt. Das Blatt bezeichnet sich übrigens selbst als "New-Luxury-Mindstyle-Magazin" und ist das erste und nach eigener Angabe erfolgreichste seiner Art. Mir will jetzt auch nach angestrengtem Nachdenken keine weitere Zeitschrift einfallen, die in diese sehr spezielle Nische fällt. Es ist also davon auszugehen, dass diese Publikation ihren Spitzenplatz verteidigen kann. Aber zurück zur Esoterik und den Kraftkarten.

In einer etwas älteren Ausgabe dieses Magazins ist sehr ausführlich davon die Rede. Hinter der Wirkung der Karten steckt der positive Einfluss der Affirmation, also der Bejahung oder Versicherung. Die Autorin des Artikels empfiehlt den Lesern, sich bei Störungen ihres Befindens auf ihr "inneres Klingeln" zu verlassen. Ich hoffe, dass damit nicht Tinnitus gemeint ist, dann wäre ich überfällig für die Kraftkarten. Die Karten alltagstauglich zu verwenden, wird dem Zeitschriftenkunden übrigens leicht gemacht: Praktischerweise gibt es sie zum Herausreißen, sodass es mit der Herstellung der inneren Ruhe gleich losgehen kann. Auf jeder Karte steht ein Organ oder Gelenk, mit dem man Probleme bekommen kann, und darunter der passende Sinnspruch, der die Beschwerden hinwegschmelzen lässt wie der Klimawandel das Polareis. Nur eben schneller. Kostproben? Bei Schwierigkeiten mit der Hüfte lautet der Rat: "In jedem neuen Tag liegt Freude. Ich bin ausgeglichen und frei." Ist es zu fassen? Das Leben kann so einfach sein! So viele Ärzte haben sich an mir die Zähne ausgebissen, das waren alles Idioten! Ich überlege, ob ich meinen Orthopäden, bei dem ich schon ungefähr zwanzig Jahre in Behandlung bin, da mal ins Bild setzen sollte.
Aber da gibt es noch mehr Hilfreiches. "Liebevoll lasse ich die Vergangenheit los. Die anderen sind frei und ich bin es auch. Alles ist jetzt gut in meinem Herzen." Na, jetzt ratet doch mal, was sich da wohl buchstäblich in Luft auflöst, wenn man diesen Ratschlag gelesen hat. Genau: Es sind ganz allgemein Schmerzen. Jetzt will ich von keinem von Euch mehr hören "Ich habe Rücken"! Vergesst es! Lest diesen Spruch wieder und wieder; irgendwann wird Euch die Müdigkeit überwältigen und die Schmerzen vergessen machen.

Aber wie könnte es anders sein: Es gibt mittlerweile offenbar so etwas wie eine Kraftkarten-Gemeinde. Im sozialen Netzwerk mit dem großen F tummeln sich etliche Fans. Da habe ich die Seite einer Frau gesehen, die die Dinger aus eigener Produktion anbietet. Ihre Karten haben ungefähr das Format DIN B6, einen bunt verzierten Rand und auf beiden Seiten leere Schreibflächen, die von der geschäftstüchtigen Dame eigenhändig gefüllt werden: Auf der einen Seite steht oft nur ein Wort, auf der anderen ein Text, der die Wahl des Wortes mit empathischen Formulierungen erläutert. Die Frau benötigt nur den Namen der Person, für die die Karte bestimmt ist, bei Kindern wird auch deren Altersangabe erbeten. Dann setzt sie sich hin und formuliert die Beschriftung jeder Karte "mit göttlicher Führung". Nicht mal mein seltener Name ist einzigartig. Ich weiß, dass es in Südafrika noch eine Frau gibt, die so heißt wie ich. Wie ist das erst, wenn man einen Namen hat, den man sich mit hunderten anderer Menschen teilt? Das Geschäft scheint zu laufen, ihre Kraftkarten sind zurzeit ausverkauft. Und unter einem Posting äußern sich begeisterte Anhängerinnen, eine bezeichnet die Kraftkarten-Schreiberin sogar als "Geschenk Gottes". Pro Karte nimmt das Gottesgeschenk übrigens 19,90 Euro. Ganz schnödes, irdisches Geld.

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