In der benachbarten Landeshauptstadt zieht sich eine Diskussion schon seit Jahren durch Politik und Gesellschaft: Sollte der Autoverkehr in der Innenstadt zugunsten des Rad- und Fußverkehrs reduziert werden? Leidet der Einzelhandel in der City, wenn Kundinnen und Kunden ihr Auto nicht mehr vor der Ladentür abstellen können, sondern z. B. ein Parkhaus ansteuern müssen?
Ich selbst bin sowohl mit dem Auto als auch mit dem Fahrrad unterwegs. Mein Schwerpunkt für alle Alltagsdinge ist allerdings das Fahrrad. Nur wenn ich größere Dinge transportieren will, mir die Strecke zu lang ist (> 30 Kilometer hin und zurück) oder das Wetter eine bestimmte Gruselgrenze erreicht hat, fahre ich lieber mit dem Auto.
So, wie ich die öffentliche Debatte wahrnehme, geht es (wieder mal) nicht um das Austauschen von Sachargumenten. Viel öfter sehe ich, dass eine Parteinahme für oder gegen Autos in der Innenstadt von der Gegenseite sofort als "links" oder "rechts" einsortiert wird. Das kennt man ja schon aus anderen Zusammenhängen.
Ich habe bis vor Kurzem geglaubt, dass die Auseinandersetzung mit dem Kernargument "eine City ohne oder mit deutlich weniger Autos ist zum Scheitern verurteilt" noch relativ neu ist. Das Überdenken von bisher praktizierten Verkehrsmodellen hat besonders Konjunktur, seitdem im Zusammenhang mit dem Klimaschutz auch von der sogenannten "Verkehrswende" gesprochen wird. Kurz: Meinem bisherigen Eindruck nach ist das Thema und die Sorge um die Handelsumsätze erst wenige Jahre alt.
Ich habe mich geirrt.
Vor einigen Tagen war ich mit meinem Mann auf dem Opernplatz in Hannover. Dort, mitten in der Innenstadt, hat das Historische Museum Hannover eine Open-Air-Ausstellung mit dem Titel "Alles Neu! - Hannover 1965-1975" installiert. Auf zehn großformatigen Fotos kann nachvollzogen werden, wie sich das Stadtbild innerhalb von zehn Jahren durch Großprojekte verändert hat. Zu jedem Foto gibt es eine längere Erläuterung, was sich hinter der jeweiligen Baumaßnahme verbirgt.
1965, als der Bau-Boom in Hannover einsetzte, gab es mich noch nicht. Am Ende dieses Zehn-Jahres-Zeitraums war ich neun - zu jung, um mich aktiv an jede der Großbaustellen dieser Zeit zu erinnern. Aber ich war wirklich überrascht, als ich den Text auf diesem Plakat las:
Hier für alle, die das nicht lesen können:
Bahnhofstraße
Ein heute ungewohnter Anblick: die Bahnhofstraße mit Autoverkehr und ohne die "Niki-de-Saint-Phalle-Promenade". Eine Fußgängerzone ist die Bahnhofstraße erst seit 1975. Zuletzt waren Bahnhofstraße und Kröpcke [Anm.: ein bekannter Platz in der hannoverschen Innerstadt und ein Ende der Bahnhofstraße] viel befahrene Verkehrsknotenpunkte, da Autos, Straßenbahnen und Fahrräder mitten durch das Stadtzentrum geleitet wurden. Pläne, den Innenstadtkern vom Verkehr zu entlasten, gab es schon seit den 1950er Jahren. [...]"
So sah die Bahnhofstraße vor dem Umbau aus:
Auf diesem Foto ist die damalige Situation noch besser zu erkennen:
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Quelle: Hannover: Blick in die Bahnhofstraße um 1960 |
Interessant daran ist, dass in der Phase, in der es in den Großstädten um den Bau von "autogerechten Innenstädten" ging, man hier schon über eine Entlastung nachdachte.
Das Ergebnis: Die Bahnhofstraße wurde zur Fußgängerzone und es wurde im Zuge des U-Bahn-Baus eine tiefer gelegene Einkaufspassage erstellt. In den vergangenen Jahren gehörte sie mehrmals zu den am meisten frequentierten Einkaufsstraßen Deutschlands. Hier ein Foto aus dem Jahr 2006:
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Quelle: Passaralle_Hannover_aussen.jpg (763×573) |
Aber es geht noch weiter.
Ein anderes Plakat beschäftigte sich mit dem Umbau der sog. Lister Meile. Diese Straße beginnt am Hauptbahnhof und endet nach rd. 1,6 Kilometern im Stadtteil List.
Auch hier die wichtigsten Inhalte des Plakats:
Lister Meile
Die Lister Meile erhielt ihren Namen am 16. November 1972. Zur Einweihung gab es ein großes Straßenfest. Ihre Existenz verdankt die Lister Meile dem U-Bahnbau zwischen Hauptbahnhof und Lister Platz 1968-1972.
Die neue U-Bahnstrecke sollte die Gegend "hinter dem Bahnhof" besser mit der City verbinden und damit eine zusammenhängende Einkaufszone erschaffen. Ein Teil der Straßen sollte zukünftig Fußgängerzone werden, ein anderer Teil verkehrsberuhigt. [...]
Dabei hatte das Projekt anfangs viele Gegner. Geschäftsleute machten sich Sorgen um Umsatzeinbußen, wenn Kunden ihre Autos nicht mehr direkt vor dem Geschäft parken konnten. Ladenbesitzende und Anwohner schlossen sich zu einem Verein zusammen. Der Verein war sowohl Kritiker als auch Partner des Projekts und spielte bei der Etablierung der Lister Meile eine entscheidende Rolle.
Wie war das? Die Diskussion über "Parken vor dem Geschäft" hatte in Hannover schon vor rd. 60 Jahren stattgefunden? Bislang hatte ich von denen, die heute ihren Pkw vor der Ladentür parken wollen, immer wieder gehört, man könne Hannover nicht mit Metropolen wie Barcelona oder Kopenhagen vergleichen. Aber nun habe ich gelernt, dass wir mehr als ein halbes Jahrhundert später nicht wesentlich weiter gekommen sind.
Die Lister Meile ist heute zu einem großen Teil eine Fußgängerzone. Das Problem sind aber im Moment manche Auto- und Radfahrer, die so tun, als habe sich nichts geändert. Von Umsatzeinbußen habe ich jedoch nichts gehört.
Auch hier gibt es Fotos für einen Vergleich:
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1957, noch mit Straßenbahn und Kfz-Verkehr |
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um 2012, an derselben Stelle, mittlerweile Fußgängerzone. Quelle beide Fotos: Der Weißekreuzplatz vor 60 Jahren |
Auf beiden historischen Fotos ist gut zu erkennen, dass die Pkw-Dichte im Straßenverkehr im Vergleich zu heute lächerlich war: 1965 lag der Pkw-Bestand in der BRD bei neun Millionen Fahrzeugen (DDR: 500.000), heute beträgt er mehr als 43 Millionen. Oder anders ausgedrückt: 1965 kam ein Pkw auf rd. sechs Einwohner und war damit eindeutig ein Luxusobjekt. Trotzdem gab es schon damals die Sorge um den Einzelhandel, wenn diese (wenigen) Kunden nicht direkt vor dem Haus parken können. Kann man das noch ernst nehmen?
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