Hat man mit einer Behinderung Vorteile?

Was habt ihr beim Lesen der Überschrift gedacht: "Das ist völlig absurd" oder "Es gibt tatsächlich Vorteile, wenn man behindert ist"? Wie sinnvoll ist es, darüber nachzudenken, ob jemand einen Vorteil dadurch hat, schlechter oder gar nicht zu hören, zu sehen, Inhalte zu verstehen oder gehen zu können? Wann gibt es einen Vorteil, wenn das Leben durch eine Depression oder Autismus bestimmt wird? Das ist keine abschließende Aufzählung. Es sind nur Beispiele, worum es sich handeln kann, wenn man sagt, dass er oder sie behindert ist.

Ich habe diese Frage in einer ähnlichen Formulierung in einem Social Media-Post gelesen. Sie wurde von einem Mann gestellt, der dort über sich sagt, selbst behindert zu sein. Seine Frage war: "Hattet ihr jemals das Gefühl, eure Krankheit oder Behinderung bringt euch einen Vorteil?"

Ich habe schon früh gelernt, dass solche Fragen gefährlich sind, erst recht, wenn sie von behinderten Menschen kommen. Es gibt leider viele nicht behinderte Leute, die die Erleichterungen, die Behinderte - überwiegend aufgrund gesetzlicher Vorgaben - erhalten, als genau das auffassen: Vorteile, die ihnen selbst verwehrt sind. Sie fühlen sich gegenüber Behinderten benachteiligt. Es geht los bei den steuerlichen Erleichterungen, setzt sich fort beim Zusatzurlaub und hört mit Parkberechtigungen noch lange nicht auf. Sobald Behinderte selbst fragen, ob eine Behinderung nicht auch Vorteile haben könnte, wird genau dieses Narrativ gefüttert.

Das kann niemand, für den diese Erleichterungen gelten, wirklich wollen. Völlig zu Recht heißen sie Nachteilsausgleiche, was genau ihren Zweck beschreibt: Sie sollen ein Stück weit einen Nachteil, den eine Behinderung mit sich bringt, ausgleichen. Dass sie das nicht vollständig können, steht außer Frage. 

Nehmen wir das Beispiel der Steuererleichterung. Wer einen Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 20 hat, hat einen Anspruch auf den Behinderten-Pauschbetrag. Er soll ein Ausgleich für Kosten sein, die wegen der Behinderung entstehen und die man also ohne sie nicht hätte. Der Pauschbetrag wird von den zu versteuernden Einkünften abgezogen und senkt so die Steuerlast. Das ist wichtig, weil ich mehrmals die Behauptung gehört habe, dass der Pauschbetrag von der festgestellten Einkommensteuer abgezogen wird. Wäre super, ist aber Unsinn. 

Und wie hoch ist nun der Pauschbetrag? Die aktuellen Beträge wurden nach 45 Jahren erstmalig ab dem Steuerjahr 2021 angehoben und sind seitdem unverändert. Bei einem GdB von 20 sind das beispielsweise 384,-- Euro, beim GdB von 40 860,-- Euro und beim GdB 50 1.140,-- Euro. Pro GdB-Schritt erhöht sich der Pauschbetrag um 240,-- bis 380,-- Euro. Wie die Abstände ermittelt wurden? Ich habe keine Ahnung. Wer einen GdB von 100 hat, dem steht ein Pauschbetrag in Höhe von 2.840 Euro zu. Die letzte Gruppe sind diejenigen, die einen Pflegegrad von 4 oder 5 haben und denen die Merkzeichen "Bl" (blind) oder "H" (hilflos) zuerkannt wurden: Für sie beträgt der Pauschbetrag 7.400,-- Euro. Mit dieser Steuererleichterung sollen zum Beispiel Kosten abgedeckt werden, die für die Inanspruchnahme von Hilfe bei Alltagstätigkeiten anfallen.
Nebenbei bemerkt: Dieser Nachteilsausgleich ist nur dann relevant, wenn eine Einkommensteuererklärung eingereicht wird. Das trifft auf die zahlreichen Behinderten ohne Erwerbseinkommen, zu denen unter anderem auch die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen zählen, nicht zu. 2019 (neuere Zahlen gibt es nicht) gab es 10,363 Millionen Menschen, die einen GdB von mindestens 20 hatten. Im selben Jahr haben etwa 1,03 Steuerpflichtige den Pauschbetrag in Anspruch genommen. 

Es gibt noch weitere Steuererleichterungen für Behinderte, sie hängen aber von den Voraussetzungen im Einzelfall ab. Darauf einzugehen, würde diesen Rahmen sprengen.

Als mein Berufsleben in den 1980-er Jahren begann, gab es noch Lohnsteuerkarten. Auf ihnen waren alle relevanten Steuermerkmale vermerkt. Am ersten Arbeitstag habe ich meine Karte im Personalbüro abgegeben, gemeinsam mit einem ebenfalls neuen Kollegen. Ich weiß noch, dass wir nebeneinander im Büro der Sachbearbeiterin standen, der Kollege einen flüchtigen Blick auf meine Lohnsteuerkarte warf, dann zu seiner sah und sagte: "Das kriegst du also auch noch?" Kurz zuvor war der zusätzliche Urlaub besprochen worden, den ich wegen meiner Schwerbehinderung bekommen habe: fünf Arbeitstage. Darauf bezog sich vermutlich die Formulierung "auch noch". 

Damals war mein GdB niedriger als heute und der Pauschbetrag ohnehin kleiner. Es waren wenige hundert D-Mark, die mir von meinem zu versteuernden Einkommen abgezogen wurden. Ergo: Der Effekt war gering, zumal ich nicht viel verdient habe. Aber was ich bei meinem Kollegen heraushörte, waren Neid und Unverständnis. Ich hatte so eine Reaktion auf vermeintliche "Vorteile" nicht zum ersten Mal erlebt, und es sollte nicht das letzte Mal bleiben. 

So etwas zu hören, macht sauer. Damals noch mehr als heute, weil ich mit der Zeit gelernt habe, mit solchen Kommentaren souveräner umzugehen. Meine Reaktion auf seine Bemerkung entsprang meinem ersten Impuls, mich gegen eine solche Unverschämtheit zur Wehr zu setzen: "Weißt du was? Du kannst alles haben! Meine Behinderung, fast ein Dutzend Operationen, in Krankenhäusern verbrachte Ferien, Schmerzen, ständige Ausfälle in der Schule, dämliche und beleidigende Bemerkungen von Mitmenschen, wochenlange Reha-Aufenthalte. Alles. Dann bekommst du den Freibetrag. Möchtest du tauschen?" Er schwieg und sah woanders hin. 

Wir sind in den nächsten Jahren gut miteinander ausgekommen. Vermutlich hat ihn nicht nur mein Ausbruch zum Nachdenken gebracht, sondern auch, dass wir jeden Tag unserer Ausbildung gemeinsam absolviert haben und er erlebt hat, welche Probleme meine Behinderung mit sich bringt. Er hat so etwas nie wieder gesagt. 

Und behinderte Menschen sollten sich über Nachteilsausgleiche freuen und nicht über "Vorteile" nachdenken. 

Quelle Foto: tom-higgins  / pixelio.de


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