Alles wird besser - aber wann?


Ich bin kürzlich über eine Äußerung des 'Beauftragten des Bundes für die Belange von Menschen mit Behinderungen', Jürgen Dusel, gestolpert. Herr Dusel ist in dieser Funktion seit sechs Jahren unterwegs und gibt u. a. bei Instagram Einblicke in seine Arbeit.

Dort äußerte er sich mit fast schon euphorischen Worten über das Kommuniqué, das nach dem Abschluss des G7-Treffens in Italien vom 13. bis zum 15. Juni 2024 herausgegeben wurde:

"Die G7 haben zum ersten Mal gemeinsame Vorhaben zur Inklusion formuliert! Zum Abschluss des Gipfeltreffens in Borgo Egnazia (Italien) formulierten die Staats- und Regierungschefs im Beschluss zu „Inklusion und Behinderung“: 'Wir werden unsere Maßnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausweiten.' Der Beschluss der G7 ist für die Rechte von Menschen mit Behinderungen von größtem Wert.“

Dieser Optimismus beruht darauf, dass - wie gesagt - zum ersten Mal überhaupt in einem G7-Kommuniqué das Thema Inklusion angerissen wurde. Angesichts dessen, dass es die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) seit 2006 gibt und diese seit 2009 auch in Deutschland in Kraft ist, kann Herrn Dusels Jubelstimmung als Indikator dafür gesehen werden, wie schleppend es mit der Inklusion hier voran geht. Fünfzehn Jahre, nachdem sich Deutschland zur Inklusion und der (deutlichen) Verbesserung der Situation seiner behinderten Bürgerinnen und Bürger verpflichtet hat, wird noch immer über das mit Pannen behaftete Reisen mit der Deutschen Bahn, die nicht barrierefreien Zugänge zu öffentlichen Gebäuden, den Mangel an barrierefreiem Wohnraum oder den systematischen Ausschluss von behinderten Menschen aus der "normalen" Bildungs- und Arbeitswelt gesprochen. 

Das steht im G7-Kommuniqué

Der EU-Rat hat eine Übersicht angefertigt, aus der die wichtigsten Ergebnisse des Gipfels hervorgehen. In sechs Arbeitssitzungen sind ebenso viele Themenblöcke entstanden. "Inklusion", "Behinderung" oder andere Begriffe, die in diese Richtung gehen, kommen in dieser Zusammenfassung nicht vor.

Etwas anders sieht es im Gesamttext aus. Dort fällt das Wort "disabilities" erstmals im Zusammenhang mit Flüchtlingen aus der Ukraine, die besonders berücksichtigt werden müssen. Die Wiedereingliederung behinderter Soldaten und Zivilisten soll eine hohe Priorität haben. Weiter unten wird ein Ziel genannt, von dem die meisten von uns schon mal gehört haben: "We will continue advancing the inclusion of persons with disabilities and accelerating gender and other forms of equality in the world of work." Also: "Wir werden weiterhin die Inklusion von Menschen mit Behinderungen vorantreiben und die Gleichstellung der Geschlechter und andere Formen der Gleichstellung in der Arbeitswelt beschleunigen." Na, da kann man doch nur hoffen, dass sich Herr Scholz daran noch erinnert, nachdem er aus Italien zurückgekehrt ist. Das, was schon vor vierzig Jahren kritisiert wurde, existiert heute immer noch: Arbeitgeber drücken sich viel zu oft davor, Schwerbehinderte einzustellen und zahlen lieber die Ausgleichsabgabe. Das lässt sich auch an der aktuellsten Statistik der Bundesagentur für Arbeit ablesen: Danach erfüllten 2021 nur 39 % der beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber die gesetzliche Vorgabe und hatten unter ihren Beschäftigten mindestens den vorgeschriebenen Prozentsatz an schwerbehinderten Menschen. Faustregel: Je größer das Unternehmen, desto schlechter fällt diese Quote aus. Knapp 26 % der beschäftigungspflichtigen Firmen hatten gar keine Schwerbehinderten eingestellt. 

Wenn man an die im Kommuniqué erwünschte Gleichstellung der behinderten Menschen in der Arbeitswelt denkt, fallen sofort die kritikwürdigen Zustände in den Werkstätten für Behinderte ins Auge. Ihr Ziel ist es, die dort Beschäftigten auf den 1. Arbeitsmarkt vorzubereiten. Das gelingt allerdings so gut wie nie, nämlich nur in 1 % der Fälle. Statt dessen liest man, dass Wohltätigkeitsorganisationen, die selbst Behindertenwerkstätten betreiben, Unternehmen Tipps geben, wie sich die Kosten für die Ausgleichsabgabe reduzieren lassen. Die Lohnkosten, die für die Arbeit der behinderten Menschen dort anfallen, sind denn auch ein "Schnäppchen": Der durchschnittliche Stundenlohn liegt bei gerade mal 1,46 Euro. Nein, das ist kein Tippfehler.

Gegen Ende des Dokuments gibt es dann tatsächlich noch einige Zeilen, die sich ausschließlich dem Thema "Inclusion and Disability" widmen. Dort heißt es: "We are committed to ensuring that all individuals have equal rights to full and effective participation in social, cultural, educational, economic, and civil and political life. We intend to enhance all persons’ talents and skills to make our communities stronger and more cohesive. We commit to further integrate disability rights across all political agendas, and in doing so, we welcome the first ever G7 Inclusion and Disability Ministers meeting. We task our Ministers to launch the Solfagnano Charter, where they will articulate actions around universal access and accessibility, independent living, inclusive employment, service availability, emergency prevention and management, among others. We will step up our action for the implementation of the United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities (UNCRPD). We look forward to the Global Disability Summit to be held in Berlin in 2025."  Also: "Wir setzen uns dafür ein, dass alle Menschen die gleichen Rechte auf volle und wirksame Teilnahme am sozialen, kulturellen, schulischen, wirtschaftlichen sowie bürgerlichen und politischen Leben haben. Wir beabsichtigen, die Talente und Fähigkeiten aller Menschen zu fördern, um unsere Gemeinschaften stärker und kohärenter zu machen. Wir verpflichten uns, die Rechte von Menschen mit Behinderungen stärker in alle politischen Agenden zu integrieren, und begrüßen in diesem Zusammenhang das erste Treffen der G7-Minister für Inklusion und Behinderung. Wir beauftragen unsere Minister, die Solfagnano-Charta ins Leben zu rufen, in der sie unter anderem Maßnahmen zu den Themen universeller Zugang und Zugänglichkeit, unabhängiges Leben, inklusive Beschäftigung, Serviceverfügbarkeit, Notfallprävention und -management formulieren. Wir werden unsere Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) verstärken. Wir freuen uns auf den Global Disability Summit, der 2025 in Berlin stattfinden wird." In meinen Ohren klingt das nicht besonders vielversprechend. Ich ahne, dass dieser Disability Summit im nächsten Jahren nichts als viel Händeschütteln und noch mehr "wir müssten mal endlich..." hervorbringt. Ganz ähnlich, wenn es um den Klimaschutz geht. 

Welchen Einfluss hat der Behindertenbeauftragte des Bundes?

Bundesbehindertenbeauftragte gibt es seit 1981, dem Internationalen Jahr der Behinderten. Das hat mich überrascht, als ich das für diesen Text nachgesehen habe, denn ich kann mich weder an Namen noch besondere Leistungen der meisten Amtsinhaberinnen und -inhaber erinnern, obwohl ich damals immerhin 15 Jahre alt war. Herr Dusel ist der siebte Beauftragte und hat mit seiner Vorgängerin Verena Bentele (2014-2018) gemeinsam, dass sie die ersten behinderten Personen in dieser Position (gewesen) sind. Der erste Behindertenbeauftragte, den ich wahrgenommen habe, war Hubert Hüppe (2010-2013), was auch an seiner Präsenz in den sozialen Medien liegen mag. Die Beauftragten haben ein festes Gehalt und einige hauptamtliche Mitarbeiter. Was ein/e Bundesbehindertenbeauftragte/r macht, geht aus der Beschreibung der eigens eingerichteten Website hervor. Da ist viel von Information, dem Werben um Solidarität, dem Kontakt zu Verbänden oder Selbsthilfeorganisationen und der aktiven Begleitung der Gesetzgebung die Rede. Klarheit bringt der Abschnitt "Grenzen der Beratung":

"Der oder die Beauftragte hat keine Möglichkeit, Behörden oder anderen Stellen Weisungen zu erteilen oder ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben. Eine Einzelfallprüfung beziehungsweise Rechtsberatung darf er oder sie nicht vornehmen. Dies ist Rechtsanwält*innen oder entsprechenden Beratungsorganisationen vorbehalten."  Ein paar Zeilen darunter wird klargestellt, dass Behindertenbeauftragte des Bundes nicht über Fördermittel verfügen, "mit denen Förderprojekte [...] unterstützt werden können." 

Der oder die Beauftragte ist also immer auf den guten Willen von Politik, Behörden und Institutionen angewiesen. Wenn dort andere Themen als wichtiger angesehen werden, fallen die behinderten Menschen mit ihren Anliegen ein Stück weit hinten runter.

Der Koalitionsvertrag als Motor der Inklusion?

Ich sehe vor mir, wie sich manche jetzt verwundert die Augen reiben. Ich verstehe das. Aber lohnt es sich nicht doch, mal nachzusehen, welche "Wundertüte" man Ende 2021 für behinderte Bürgerinnen und Bürger vorgesehen hatte? 

Im Koalitionsvertrag findet sich ein ganzer Abschnitt um Thema Inklusion. Mit Interesse habe ich gelesen, dass ein Bundesprogramm Barrierefreiheit eingerichtet werden soll, mit dem deutschlandweit in allen Bereichen des öffentlichen Lebens Barrierefreiheit erreicht werden soll. Das Programm sollte seine Schwerpunkte auf die Bereiche Mobilität, Wohnen, Gesundheit und Digitalisierung legen. Sollte, denn da ist seit Dezember 2021 nichts passiert. Ähnlich sieht es mit dem Aufbau eines Kompetenzzentrums Leichte Sprache aus, das beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales angesiedelt sein sollte. Dort sollten Stellen für Gebärdendolmetscher und Experten für Leichte Sprache eingerichtet werden, um gesprochene und geschriebene Informationen der Bundesregierung allen Menschen zugänglich zu machen. Hier gab es offenbar Bemühungen, die aber bis heute keinen Erfolg hatten.

Der Koalitionsvertrag zählt eine ganze Reihe kleinerer und großer Maßnahmen auf, die die Situation der behinderten Menschen deutlich verbessern sollen. Es geht dabei z. B. um die Werkstätten, den Sport, Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt, das Persönliche Budget oder die Umwandlung des Schwerbehindertenausweises in einen digitalen Teilhabeausweis. Manches wurde tatsächlich angestoßen, aber den wirklich "großen Wurf" hat es nicht gegeben. Zu den Neuerungen gehört das Barrierefreiheitstärkungsgesetz. Es verpflichtet nach den öffentlichen Institutionen nun auch die Privatwirtschaft, ihre Waren und Dienstleistungen in barrierefreier Form anzubieten. Diese Verpflichtung gilt ab 25. Juni 2025. Das Gesetz enthält eine ganze Reihe von Ausnahmen, um die Zumutbarkeit für die Unternehmen zu gewährleisten. So gibt es zum Beispiel für den Bäcker um die Ecke keine Verpflichtung, eine Rampe vor seiner Ladentür zu installieren. Kleiner Gag am Rande: Geldterminals müssen erst ab 2040 barrierefrei nutzbar sein. Das dürfte die Banken nicht mehr tangieren, da die Zahl der Geldautomaten in 16 Jahren wahrscheinlich auf praktisch null geschrumpft sein wird. 

Diese sehr schleppende Entwicklung liegt nicht allein an der Ampel-Regierung; in den Jahren zwischen 2005 und 2021 hat man sich in den Regierungen Merkel I-IV ebenfalls nicht vor Eifer überschlagen, den Behinderten das Leben zu erleichtern. Hier und da wurde ein bisschen an einer Schraube gedreht. Das Problem ist: Maßnahmen, die das Leben der behinderten Menschen signifikant verbessern würden, kosten Geld. 

Aber können Schwerbehinderte nicht auch wählen? Selbstverständlich, und seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfen auch kognitiv behinderte Menschen, die einen Betreuer oder eine Betreuerin haben, an Wahlen teilnehmen. Das war dann erstmals zur Bundestagswahl 2021 der Fall. Damit gab es am Stichtag 31.12.2021 fast 7,6 Millionen volljährige Schwerbehinderte (Quelle: Statistisches Bundesamt). Das ist eine Größenordnung, die von der Politik nicht vernachlässigt werden sollte. Es wäre schön, wenn das in deren Bewusstsein vordringen würde.

Bis es soweit ist, bin ich nur gebremst optimistisch, dass sich die Lage von behinderten Menschen in absehbarer Zeit spürbar verbessern wird. Aber ich lasse mich da gern überraschen. Vielleicht durch den Global Disability Summit im nächsten Jahr.




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Photo credit Schiff: Andrea Baldassarri on VisualHunt

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