Wahl-Gedanken

Quelle: s. unten
In den letzten Tagen dominierte u. a. das Ergebnis der niederländischen Parlamentswahl die Nachrichten: Der Rechtspopulist Geert Wilders hat mit seiner Partei PVV mit deutlichem Abstand überraschend viele Stimmen eingesammelt. Die amtlichen Hochrechnungen liegen bei 23,5 %, die zweitstärkste Partei kommt nur auf 15,5 %. Noch vor zwei Jahren waren es für die PVV nur 10,8 %. In dieser Deutlichkeit hatte das wohl keiner auf dem Zettel. 

Wilders reklamiert nun den Posten des Ministerpräsidenten für sich. Das liest sich wie ein schlechter Witz, wenn man bedenkt, dass die PVV nur ein Mitglied hat: Geert Wilders. Alle anderen Personen, die für die Partei Ämter oder Sitze übernommen haben, stehen der PVV nur nahe. Wilders ist seit 25 Jahren in der Opposition, und ich kann mich noch gut erinnern, dass er früher mal als Projektionsfläche für Spott diente ("die Frisur!") und allgemein wegen seiner Ansichten abgelehnt wurde - hier in Deutschland und in den als liberal empfundenen Niederlanden sowieso.

Aber wenn wir uns umsehen fällt auf, dass es in Europa in einigen Ländern eine Verschiebung nach rechts gegeben hat: Ob man nach Ungarn, Italien, Schweden, Belgien oder Frankreich schaut - die Parteien des äußeren rechten Randes waren entweder bereits bei Wahlen erfolgreich oder liegen bei Meinungsumfragen weit vorn. In Deutschland ist Ähnliches zu beobachten: Bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern hat die AfD deutlich zugelegt, es gibt in Sachsen-Anhalt den ersten hauptamtlichen Bürgermeister und in Thüringen den ersten Landrat.

Ich kann nicht nachvollziehen, warum man bei der AfD, der PVV, der Rassemblement National, den Fratelli d'Italia und den weiteren rechten Parteien sein Kreuz auf dem Wahlzettel macht. Weil "alles" besser werden soll? Was ist denn dieses "alles"? Haben diejenigen, die meinen, dass sich "etwas ändern" müsste, eine genaue Vorstellung davon, was das sein soll?

Tatsache ist, dass wir in einem Umfeld voller komplexer Problemlagen leben, die kaum ein durchschnittlicher Bürger noch vollständig durchschaut und versteht. Wie das so ist mit komplexen und unübersichtlichen Problemen, gibt es für sie keine einfachen Lösungen. Das ist im Leben jeder und jedes Einzelnen so, und natürlich in der Inlands- und internationalen Politik erst recht. Auch die rechten und rechtsextremen Parteien haben bislang noch für nichts eine Lösung aus dem Hut gezaubert. Sie benennen Dinge, die sie für aus dem Ruder gelaufen halten, aber bieten keine Strategien oder Pläne an. Wer einen Blick in das Wahlprogramm der AfD wirft, muss zu dieser Erkenntnis kommen. Wer es nicht tut und trotzdem diese Partei wählt, verschließt die Augen vor der Wahrheit.

Lasst uns einen kurzen Blick auf Björn Höcke werfen. Das Geraune, er könnte für die AfD als Kanzlerkandidat auftreten, reißt nicht ab und wird auch von Alice Weidel befeuert. Sicher ist, dass er der Spitzenkandidat der Partei für die Landtagswahl in Thüringen 2024 sein wird. Warum? Weil er Lösungen anbietet? Das darf bezweifelt werden: Der Verfassungsschutz hat die AfD Thüringen als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Höckes Trumpf sind seine rhetorischen Fähigkeiten, mit denen er offenbar viele Menschen anspricht.

Im diesjährigen Sommerinterview des MDR ließ Höcke durchblicken, welche Priorität behinderte Menschen für ihn haben. Er sprach von "Belastungsfaktoren", die man "vom Bildungssystem wegnehmen" muss. Dort sagte er auch dies: „Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion, [...]. Alles das sind Projekte, die unsere Schüler nicht weiterbringen, die unsere Kinder nicht leistungsfähiger machen und die nicht dazu führen, dass wir aus unseren Kindern und Jugendlichen die Fachkräfte der Zukunft machen.“

Das heißt nichts anderes, als dass er Menschen mit Behinderung von Bildung ausschließen möchte. Was er stattdessen mit ihnen vor hat, bleibt ungesagt.
Bildung ist der Schlüssel für die persönliche Entwicklung. Ich sehe auf mein eigenes Leben zurück, das von Anfang an von meiner Behinderung geprägt war. Ich habe immer reguläre Schulen besucht, den Begriff 'Inklusion' benutzte damals niemand. Es wurde einfach gemacht. Die Mitschülerin (also ich) kann in der Grundschule keine weiten Strecken laufen, die Klasse möchte aber während der einwöchigen Klassenfahrt wandern? Kein Problem: Der Herbergsvater lieh uns einen Bollerwagen, in den ich gesetzt wurde, und meine Mitschülerinnen und Mitschüler haben mich abwechselnd gezogen. Wir hatten alle Spaß.
Ähnlich in der weiterführenden Schule: Der dortige Klassenlehrer hat vor der Klassenfahrt mit dem Busunternehmen vereinbart, dass ich ein Klapprad mitnehmen durfte. Immer, wenn es während der Schulzeit ein behinderungsbedingtes Problem gab, wurde nach einer Lösung gesucht. Davon habe ich selbstverständlich stark profitiert; ich denke aber auch, dass auch meine jeweiligen Mitschülerinnen und Mitschüler von der Situation profitiert haben, weil sie realisiert haben, dass Gesundheit nicht selbstverständlich ist und gegenseitige Rücksichtnahme alle weiterbringt.

An dieser weiterführenden Schule habe ich dann auch Abitur gemacht - obwohl ich z. B. durch Operationen viele Fehlzeiten angehäuft hatte. Danach habe ich einen normalen Berufsweg eingeschlagen, der mich bis in ein niedersächsisches Ministerium geführt hat.

Da Höcke, der mutmaßlich in Zukunft in der AfD eine immer größere Rolle spielen wird, schon der schulischen Inklusion von Behinderten kritisch bis ablehnend gegenüber steht, ist für andere Themen in diesem Zusammenhang nichts Gutes zu erwarten. Wenn Behinderten von ihm schon pauschal das Recht auf Bildung abgesprochen wird, wie sieht es dann mit der Barrierefreiheit oder der gesellschaftlichen Teilhabe aus?

"Ist mir scheißegal, dieser Behindertenkram interessiert mich nicht"

Die, die rechtsextreme Parteien wählen, wählen solche Haltungen und Visionen wie die von Björn Höcke gleich mit. Egal? Kann man so sehen, wenn man sich selbst für unverwundbar hält und/oder keine Menschen im eigenen Umfeld hat, die einem wichtig sind. Dass jedoch lebenslang beide Bedingungen erfüllt sind, ist sehr unwahrscheinlich:
  • Dein/e Partner/in kann einen Schlaganfall erleiden und für den Rest ihres/seines Lebens auf Hilfe angewiesen sein.
  • Dein Kind stürzt beim Sport und bleibt gelähmt.
  • Du wirst in einen Verkehrsunfall verwickelt, bei dem du ein schweres Schädel-Hirn-Trauma davon trägst. Zwei Drittel der Patienten mit dieser Diagnose erleiden schwere bleibende Schäden.
Nur drei Prozent der Behinderungen sind angeboren oder treten im ersten Lebensjahr auf, 89 Prozent sind die Folge einer Erkrankung. Anders gesagt: Es kann Jede und Jeden treffen. Wenn einem also der 'Behindertenkram' anderer Leute wurscht ist, könnte man ja aus Eigeninteresse darüber nachdenken, ob man Rechtsaußen-Politikern zu Macht und Einfluss verhelfen sollte. Könnte? Nein, man sollte das unbedingt tun.

Habt ihr noch den Artikel in Erinnerung, den ich Ende Oktober hier veröffentlicht habe? "Er war der Intelligenteste von uns", hat mein Vater mehrmals über seinen Bruder gesagt, der als Epileptiker von den Nationalsozialisten als nicht lebenswert eingestuft und 1941 im Alter von 26 Jahren vergast wurde. Die Intelligenz war ihnen gleichgültig, die Behinderung war der Maßstab, der über Tod oder Leben entschied.

Ihr glaubt, 'so etwas' kann nie wieder passieren? Wenn ich mich in der politischen Landschaft mit ihren rechtsextremistischen Trends umsehe, kommen mir daran Zweifel.


Bildnachweis: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de





Kommentare