Verzeihen - Geht das immer?

Wer die Fehler anderer nicht
gut verzeihen kann, gilt schnell als nachtragend und stur. Da kann man schon mal auf den Gedanken kommen, dass die Fähigkeit und Bereitschaft zum Verzeihen zum gesellschaftlich erwarteten Verhaltenskanon gehört. Aber ist das wirklich so? Muss man über kurz oder lang alles verzeihen, was einem Menschen angetan haben?

Ich habe oft beobachtet, wie andere damit umgehen, jemandem dessen falsches Verhalten zu vergeben. Manchen fällt es scheinbar leicht, auch schlimme Fehltritte zu verzeihen; andere hingegen bauschen Kleinigkeiten auf und erwarten, dass sich der "Sünder" gewissermaßen vor ihnen in den Staub wirft.

In den letzten Jahren ist es mir mehrmals passiert, dass mich Freundinnen, die ich seit mehreren Jahrzehnten kannte, schwer enttäuscht haben. Das letzte Mal ist etwa zwei Jahre her. Wegen einer Nichtigkeit hat diese Freundin etwas getan, das sich für mich wie ein Verrat anfühlte. Sie war sich keiner Schuld bewusst, als ich sie auf ihr Verhalten, das mich sehr verletzt hatte, ansprach. 

Mir war schon lange klar, dass Empathie nicht zu den Kernkompetenzen dieser Freundin gehörte. Bislang konnte ich das jedoch ignorieren, weil ihre sicheren Tritte in Fettnäpfchen keine großen Auswirkungen hatten. Aber was dann passiert war, hat mich wirklich erschüttert.

Sie hat so reagiert, wie man es von ihr gewohnt war: erstaunt über meinen Ärger und meine Enttäuschung, aber verständnislos. Ich habe sie unter vier Augen zur Rede gestellt, um ihr klar zu machen, wie schlimm ich fand, was sie gemacht hatte. Aber ich habe deutlich gespürt: Das, was ich empfunden hatte, kam bei ihr gar nicht an. Ganz offensichtlich war sie kein bisschen berührt. Ich hatte zumindest erwartet, dass sie, wenn sie sich schon keiner Schuld bewusst ist, wenigstens bedauert, mich in diese Situation gebracht zu haben, über die ich so verärgert war. 

Nur wenige Minuten nach dieser "Aussprache", die in Wahrheit keine war, ging sie auch schon zur Tagesordnung über. Nach einer Weile hat sie sich freundlich lächelnd verabschiedet und sagte: "Melde dich, wenn du mal wieder Zeit hast. Das war doch ein schöner Nachmittag."

Ich habe den Kontakt zu dieser nun Ex-Freundin abgebrochen. Noch monatelang hat sie immer wieder gefragt, wann wir uns denn treffen könnten. Sie hatte nichts verstanden. Wenige Male habe ich sie seitdem noch gesehen, aber nie allein. Ob ich ihr verziehen habe? Ich bin mir nicht sicher. Wir wohnen zwar im selben Ort, aber nicht im selben Viertel, sodass wir uns bislang nicht zufällig über den Weg gelaufen sind. Fehlen tut sie mir nicht. Sie spielt für mich keine Rolle mehr. Ich glaube, ob ich ihr verzeihe oder nicht, macht für mich keinen Unterschied.


Photo by Dmitrii_Kot from PxHere

Kommentare

  1. Auch ich kann Beleidigungen nur schwer ertragen. Sie brennen sich in die Seele ein und sind trotz aller Bemühungen nicht mehr zu vergessen.
    Daher kann ich Dich gut verstehen.
    Liebe Grüße von Ingrid, der Pfälzerin

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    1. Danke, liebe Ingrid. Das, was da so verletzend für mich war, war keine Beleidigung, sondern eine sehr krasse Illoyalität, die man seinen Freunden nicht zumutet. Es war der berühmte Tritt vors Schienbein. Aber es muss eben jeder selbst wissen, wo er seine Prioritäten hat. Ich habe aus dieser Erfahrung meine Konsequenzen gezogen.
      Herzliche Grüße von Ina aus Niedersachsen

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