Wer kommt zuerst dran?

Kennt ihr Ralph Ruthe? Ruthe ist ein Cartoonist, der seine Zeichnungen auch auf die Bühne bringt. Da ich vor einiger Zeit mit einer Freundin einen seiner Auftritte besucht habe, weiß ich, dass er am Ende anbietet, im Foyer des Veranstaltungsortes für seine Fans signierte Schnellzeichnungen seiner Figuren anzufertigen. Wer eine der Zeichnungen haben möchte, stellt sich dann in der langen Schlange an. Bevor die "Zeichenstunde" beginnt, bittet Ruthe alle Wartenden, Menschen mit körperlichen Einschränkungen nach vorn zu lassen, um ihnen das Warten zu verkürzen und zu erleichtern. Ich finde das prima, vermute jedoch, dass er diesen Hinweis für nötig hält, weil das ohne ihn oft nicht funktionieren würde.

Ich liebe Erdbeeren. Sie gehören zum Sommer unbedingt dazu. Am besten sind sie direkt vom Feld. Allerdings kann ich sie nicht selbst pflücken. Also gehe ich ab und zu zu einem Verkaufsstand in der Nähe und nehme ein Kilo der leckeren Früchte mit nach Hause. Kürzlich bin ich wieder dort vorgefahren: Mit meinem speziellen Dreirad, hinten mit fixierter Gehhilfe, hielt ich so nahe wie möglich an der großen Kunststoff-Erdbeere. Mit meinem damenhaften Gang ging ich auf den Verkaufsstand zu und sah, dass zwei junge Frauen, die mit ihren beiden Kindern im Grundschulalter gerade vom Erdbeerfeld kamen, dasselbe Ziel hatten. Mit ihren vollen Plastikbehältern wollten sie ebenfalls zum Erdbeerverkäufer. Mit einem Mini-Vorsprung von drei oder vier Sekunden kamen sie vor mir dort an. 

Ein flüchtiger Blick in meine Richtung, dann reichten sie ihre Ernte zum Wiegen über den Tresen, tauschten mit dem Verkäufer ein paar Banalitäten aus, kramten umständlich nach dem Bargeld ("Ach, ich sehe gerade, dass ich es doch passend habe!") und verabschiedeten sich mit "Einen schönen Tag noch!" und "Bis zum nächsten Mal!". Sie hatten offenbar nicht den Eindruck, etwas falsch gemacht zu haben, und werden dieses Verhalten möglicherweise an ihre Kinder weitergeben. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst finden sie völlig normal.

Wo ist Ralph Ruthe, wenn es darum geht, einen freundlichen, aber deutlichen Hinweis zu geben? Ich bin in dieser Hinsicht mittlerweile ziemlich müde.



Photo credit: Nicholas Erwin on VisualHunt.com

Kommentare

  1. Rücksichtslosigkeit ist vielleicht auch eine Form von Behinderung.
    LG
    Sabiene

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    1. Mag sein. Aber eine, die offenbar in weiten Teilen der Gesellschaft nicht als solche, sondern als normal und in Ordnung bewertet wird. LG Ina

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