Sind die Parteien auf die Stimmen der behinderten Menschen angewiesen?

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Die Wahlen sind seit September gelaufen, ich habe meine Kreuze für die Bundestags-, Kommunal- und Regionswahl (Region Hannover) gemacht. Einen neuen Bürgermeister hat unsere Kleinstadt ebenfalls gewählt, der "Alte" hat es nach 24 Jahren Amtszeit vorgezogen, seinen Ruhestand zu genießen.

Bei jeder Wahl habe ich den Eindruck, dass es mir noch nie so schwer gefallen ist, meine Stimmen zu verteilen. Das war diesmal nicht anders. Ich hatte mich für die Briefwahl entschieden und saß zu Hause vor zum Teil ausladenden Kandidatenlisten; eine nahm den halben Küchentisch ein. Als ich in einer kleinen Runde zwei Menschen, die mich schon seit über 40 bzw. 50 Jahren kennen, davon erzählte, nickten sie zustimmend. Und als ich meinen Ärger bei der Wahl zur Regionspräsidentin oder zum Regionspräsidenten kund tat, deren Wahlprogramme ich vor meiner Stimmangabe gelesen hatte, sagte der, der mich am längsten kennt: "Damit gehörst du echt zu den Dinosauriern. Kein Mensch guckt mehr in Wahlprogramme." Er könnte recht haben.

Die Frage, die in der Überschrift steht, könnte kurz beantwortet werden, nämlich mit "Nein, offenbar nicht unbedingt". Das ist nämlich die Erfahrung, die ich mit dem Kandidaten bzw. der Kandidatin für das Amt des/der Regionspräsidenten oder -präsidentin gemacht habe, die in die Stichwahl gekommen waren. Ihre Pläne, was sie für die Region Hannover erreichen wollen, hatten beide einigermaßen ausführlich auf ihren Websites erläutert. Und was fehlte? Wie so oft eine Darstellung, wie sie sich die Behindertenpolitik in ihrer Amtszeit vorstellen. Eine Woche vor dem Termin für die Stichwahl habe ich sowohl dem SPD-Kandidaten als auch der CDU-Kandidatin am 19. September 2021 eine Mail geschrieben:

Sehr geehrte/r Frau/Herr K.,

10,6 % der Menschen (= 122.411), die in der Region Hannover leben, sind schwerbehindert. Das geht aus einer Statistik der "Stabsstelle Beauftragte der Region Hannover für Menschen mit Behinderung" aus dem März 2021 hervor. Da die dort veröffentlichten Daten aus dem Jahr 2019 stammen und über die letzten Jahrzehnte die Zahl der anerkannt Schwerbehinderten gestiegen ist, dürften es bereits mehr sein. In Ihrem Programm kommen diese Menschen allerdings nicht vor: Es geht an keiner Stelle um bezahlbaren barrierefreien Wohnraum für alle Altersgruppen, es geht nicht um eine zielführende Unterstützung bei der Berufs- oder Studienorientierung (Jobcenter heute und Arbeitsämter früher sind da eher keine Hilfe), es geht nirgends um das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von behinderten Menschen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Die Wirtschaftsförderung hat diese Bevölkerungsgruppe meiner Ansicht nach nicht im Blick. Inwieweit ist es Ihnen ein Anliegen, als Regionspräsidentin/-präsident die Anliegen der behinderten Bürgerinnen und Bürger in der Region Hannover zu unterstützen?

Mit freundlichen Grüßen

Drei Tage passierte nichts. Der SPD-Kandidat hatte allerdings im Gegensatz zu seiner CDU-Kontrahentin die Bürgerinnen und Bürger per Kontaktformular dazu aufgefordert, ihm zu schreiben. Die CDU-Kandidatin hatte das nicht getan, sondern im Impressum ihre Kontaktdaten angegeben.

Geantwortet hat mir dann die Kandidatin. Mit freundlichen Worten sagte sie mir zu, in allen Belangen auch die der behinderten Menschen zu berücksichtigen. Da sie die Wahl verloren hat, gibt es keine Möglichkeit zu überprüfen, ob ihr Versprechen in der Realität Bestand gehabt hätte.

Der Kandidat der SPD hat bis heute nicht geantwortet. Was soll ich jetzt daraus schließen? Sind ihm die mehr als 120.000 behinderten Bürgerinnen und Bürger egal? Ich hätte angesichts des sicher vollen Terminkalenders des Herrn, der in sechs Tagen zum Regionspräsident ernannt werden wird, mich auch über eine verspätete Rückmeldung gefreut. Aber nichts? Das ist mehr als schwach und macht mich für die kommenden fünf Jahre nicht optimistisch.

Vielleicht denken jetzt manche, dass dieser Text einen Monat nach den Stichwahlen zu spät kommt. Im Moment wird nur noch über Koalitionsverhandlungen im Bund und in den Kommunen gesprochen. Doch ich finde: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Und dass ausgerechnet der Kandidat, dessen Partei das Wort "sozial" im Namen trägt, nicht geantwortet hat, finde ich enttäuschend.



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