Weiter geht's! - oder: Warum ich diesmal ausgerechnet über Reha-Kliniken schreibe

Es ist hier ganz schön still geworden. Nicht, dass ich nichts zu sagen hätte oder in einen Dornröschenschlaf gefallen wäre, aber die Zeit der Lockdowns, Öffnungen, täglich neuen Inzidenzzahlen und mehr oder weniger sinnvollen Diskussionen rund um die Pandemie hat meiner Kreativität nicht gut getan. Jetzt scheint es ja (wieder mal) aufwärts zu gehen, auch wenn im Hintergrund möglicherweise die sog. Delta-Variante auf dem Sprung ist. 

Aber ich denke, wir sind uns einig: Informationen über "das Virus" wurden kübelweise über uns ausgeschüttet. Deshalb werde ich das Thema an dieser Stelle links liegen lassen.

Was mich heute spontan wieder an den Laptop gebracht hat, war ein Blogbeitrag auf Sabienes Welt. Sabine ist gerade in einer Reha-Klinik und hat mich mit dem Beitragstitel "Live aus der Reha" angelockt. Klingt langweilig? Das kann man durchaus anders sehen.

Ich war schon etliche Male in einer Reha-Klinik. Das erste Mal mit 16, das letzte Mal vor wenigen Jahren. Vor jeder Reha habe ich zwiespältige Gefühle: Ich bin dankbar, dass es diese Möglichkeit gibt, in drei oder mehr Wochen etwas für seine Gesundheit zu tun. Diese Art der Gesundheits- und Genesungsförderung ist nicht selbstverständlich, sondern auf der Welt einzigartig. 

Aber andererseits weiß ich, dass ich mich wochenlang anpassen muss: an einen manchmal eng getakteten Behandlungsplan, an feste Essenszeiten, an fremde Menschen, um die ich im "normalen" Leben möglicherweise einen Bogen machen würde, hier aber mit ihnen auskommen muss.

Ich hatte mir in einem älteren Artikel schon mal Gedanken um das Thema Reha gemacht. Wie ich gerade feststelle, wurde auch er von einem Blogartikel angestoßen, der von der oben genannten Sabine stammt. Sabine, wenn du das hier liest: Danke für so viel Inspiration.

Seebrücke Ahlbeck
Zurück zur Reha. Ich habe irgendwie alles durch: Es gab Rehas, die ich als verschwendete Lebenszeit ansehe, und andere, die ich gern verlängert hätte - wegen der tollen Therapien, des sehr fitten Therapeuten - und auch wegen des guten Essens und der schönen Gegend. Bei dieser Beschreibung denke ich an mehrere Aufenthalte in einer Reha-Klinik auf Usedom, wo alles gepasst hat. Obwohl ich kein Fan von größeren Gruppen bin und mich niemandem aufdränge, habe ich sehr nette Patienten kennengelernt, mit denen ich dort Zeit verbracht habe. Einige trauerten ihrem Leben in der DDR hinterher, andere bedauerten ihre verpassten Chancen, die das System ihnen genommen hatte. Eine meiner Tischnachbarinnen im Speisesaal erzählte, dass sie gern Abitur gemacht und studiert hätte, aber Traktoristin werden musste. "Und dabei wollte ich nie in die Landwirtschaft", fügte sie hinzu.

Mit ihr habe ich einen von der Klinik organisierten Tagesausflug nach Rügen gemacht. Ein Ehepaar, das aus Sachsen zu kommen schien, fuhr auch mit. Der Mann erzählte immer wieder, in welchen Ländern er gewesen sei, als es die DDR noch gab. "Guck dir den an!", zischte mir meine Tischnachbarin zu, "der war todsicher bei der Stasi! Nur die konnten doch auch in den Westen reisen!" Sie klang bitter und hat mit dem Mann kein Wort gesprochen. Solche Gräben lassen sich wahrscheinlich nicht so einfach zuschütten. 

In derselben Klinik habe ich auch Bekanntschaft mit Stalking gemacht. Ich kann seitdem erahnen, wie es sich anfühlen muss, ständig von jemandem verfolgt und beobachtet zu werden. Glücklicherweise war meine Erfahrung auf die drei Reha-Wochen beschränkt, in denen ich von einer anderen Patientin belästigt wurde. Sie hatte einen Narren an mir gefressen und wollte jede Mahlzeit, die gesamte Freizeit und am liebsten auch die Pausen zwischen den einzelnen Behandlungen mit mir verbringen. Sie lauerte mir an der Rezeption auf, wo ich eigentlich einen Blick in die Tageszeitung werfen wollte, und gab mir immer wieder mit vorwurfsvollem Blick zu verstehen, dass sie nicht nachvollziehen konnte, wenn ich meine eigenen Pläne hatte - ohne sie. Einen schönen Gruß an Elvira, die mir damals den letzten Nerv geraubt hat.

Und dann war da noch Andreas. Er war das, was man als "Unikat" bezeichnet. Ihn habe ich kennengelernt, weil er an meinen Tisch platziert wurde, an dem einen Tag vorher der sechste Platz frei geworden war. Wir waren etwa im gleichen Alter, aber im Gegensatz zu allen anderen, die auf Nachfrage bereitwillig erzählten, woher sie kamen und was sie beruflich machten, war er ein Fan des Geheimnisvollen. Mit seinem fußballrunden Bauch und seinem ausladenden Cowboyhut war er auch im Gedränge des Speiseraums nicht zu übersehen.
Als Andreas von einem anderen Patienten während des Essens nach seinem Beruf gefragt wurde, schmunzelte er verschwörerisch und sagte augenzwinkernd: "Das ist so ungewöhnlich, dass ihr das nie erraten werdet." Offenbar hatte niemand am Tisch Lust auf ein heiteres Beruferaten. Alle schwiegen und sahen ihn an. "Na gut, wenn ihr es unbedingt wissen wollt..." Keine Ahnung, welchem unserer gelangweilten Gesichtsausdrücke er das entnommen hatte, aber er fuhr fort. "Ich bin Musiker!"

Fünf Leute nickten, sagten "ach so" oder "ah ja" und aßen weiter. "Rockmusiker!", schob Andreas bedeutungsvoll hinterher. 
"Ach, echt?", hakte einer nach. "Was spielst du denn so? Ich habe noch nie von dir gehört." Im Aus-dem-Boden-Stampfen einer Fan-Base musste Andreas noch üben. 
"Im Grunde alles", gab er zurück. "Ich habe gerade eine neue CD aufgenommen. Die bringe ich euch mal mit." Ein kollektives stummes Nicken am Tisch musste reichen. Tatsächlich kam er einen Tag später mit einer Handvoll CDs zum Frühstück. "Normalerweise verkaufe ich die natürlich, aber euch schenke ich sie", sagte er großzügig, was ich ziemlich nett fand. Mittlerweile war allen klar, dass er so knapp bei Kasse war, dass er vom Geld seiner Freundin lebte. Mit ihrem teuren Mercedes war er auch angereist und hatte allen einen nicht vorhandenen kommerziellen Erfolg als Musiker vorgegaukelt. Seine CDs hat er übrigens in der Fußgängerzone von Ahlbeck unter die Leute gebracht. Für fünf Euro pro Stück. Da tat er mir fast schon leid.

Andreas war es aber auch, der mit mir durch Ahlbecker Hotels tingelte und mir half, ein Zimmer für meine Tochter zu finden, die übers Wochenende kommen wollte. Er war einer der größten Charmeure, denen ich bisher begegnet bin, und hat die Damen an den Rezeptionen buchstäblich um den Finger gewickelt. Zwei von ihnen fragten sogar, ob man sich nicht mal abends treffen könnte - während ich daneben stand und staunend aus der Wäsche guckte. Und das, obwohl er mit Brad Pitt & Co. nicht die entfernteste Ähnlichkeit hatte. Es war einfach unglaublich.

Der Moment, in dem man sich verschaukelt fühlt

Schloss Schaumburg
Unvergessen ist auch der Arzt, der für mich in einer
Reha-Klinik zuständig gewesen ist, die nur eine Autostunde von meinem Wohnort entfernt liegt. Ich habe mein ganzes Leben lang mit den Einschränkungen zu tun gehabt, die mit meiner Behinderung einhergehen. Ich bin eine Expertin in eigener Sache. Ist es überraschend, dass ich als solche ernst genommen werden will? Meistens klappt das, ich bin in der Lage, mich klar und deutlich auszudrücken. Doch bei diesem Orthopäden biss ich auf Granit: Zu meinen Ausführungen über meine Schwierigkeiten nickte er wohlwollend und verständnisvoll und schrieb etwas auf. "In Ordnung", sagte er am Ende des Gesprächs, "Sie finden den Behandlungsplan morgen früh in Ihrem Briefkasten."

Der von ihm angeordnete Behandlungsplan war eine echte Überraschung. Das, was da stand, hatte nichts mit dem zu tun, was ich dem Arzt einen Tag zuvor berichtet hatte. Therapien, mit denen ich in vorherigen Rehas sehr gute Erfahrungen gemacht hatte, tauchten fast gar nicht auf. Statt dessen gab es reichlich Termine, die man üblicherweise Patienten verordnet, die frisch an Hüfte oder Knie operiert worden waren. Selten habe ich mich mehr am falschen Ort gefühlt.

Selbstverständlich habe ich den Arzt darauf angesprochen und darum gebeten, den Plan zu ändern. Aber der Orthopäde musterte mich nur und beschied höflich-distanziert, dass es dabei bleibe. Meine Einwände nahm er kommentarlos zur Kenntnis und verabschiedete sich dann. Das Gespräch mit der Wand wäre weniger frustrierend gewesen, von ihr erwartet man keine sinnvolle Antwort.

Solch ein Verhalten eines Arztes, an dem alles, was ihm ein Patient sagt, abperlt wie Wasser an einem Wachstuch, hatte ich in diesem Ausmaß noch nie erlebt. Ich habe, nachdem ich wusste, dass der Arzt als Vorsitzender einer sehr großen religiösen Gemeinschaft aktiv ist, eine Ahnung gehabt, warum er ganz offenkundig nicht auf mich eingegangen ist. Ein Gespräch mit einem Therapeuten hat das untermauert: Dieser erzählte, dass es die Therapeutinnen bei dem Arzt deutlich schwerer haben als ihre männlichen Kollegen, mit Vorschlägen erfolgreich zu sein. Während die Hinweise der Therapeuten von dem Orthopäden in der Regel wohlwollend aufgenommen und umgesetzt werden, müssen sich die Kolleginnen mühsam Gehör verschaffen und scheitern oft. 

Ich habe also sehr wahrscheinlich wegen meines "falschen" Geschlechts von vornherein keine Chance gehabt. Das empfinde ich als deutlichen Mangel an der ärztlichen Kompetenz. Das Abschlussgespräch fand zufällig mit einem anderen Arzt statt. Dieser war von den falschen Verordnungen seines Kollegen so entsetzt, dass er sich spontan dafür entschuldigt hat. Eine nette Geste, die aber hinsichtlich der Behandlung nichts mehr brachte.

Nach dieser Reha habe ich mich schriftlich beim Träger der Einrichtung über den für mich vollkommen sinnlosen Behandlungsplan beschwert. Die Antwort kam ein paar Wochen später direkt von der Reha-Klinik und enthielt eine Ansammlung leerer Phrasen: "Wir bedauern, dass...", "Nach ärztlicher Einschätzung geboten..." Am Ende des Briefs wurde die Hoffnung geäußert, dass ich mich irgendwann wieder für die Klinik entscheiden werde.
Sicher nicht.


Nachtrag: Die Fotos stehen für die Gegenden, in denen sich die Kliniken befunden haben.

Kommentare

  1. Wahrscheinlich ähneln sich viele Berichte aus Reha-Kliniken. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht wie Du: Nervige Mitkurerinnen, die mich vereinnahmen wollten und einen Angeber am Tisch, der mehr sein wollte als er tatsächlich war. Aber auch nette Frauen, mit denen ich gerne spazieren ging.
    Allerdings hatte ich, anders als Du, einen guten Kardiologen als behandelnden Arzt der mit seinem Behandlungsplan für einen Kurerfolg bei mir sorgte. Er ist schon lange im Ruhestand, denn er war damals vor 15 Jahren schon kurz vor der Rente (sagt man das bei Ärzten so?). Ich denke auch gerne an Wolfgang, den Sportlehrer, der uns herrlich motivierte. Damals habe ich Sport geliebt und mich gerne an seine Anweisungen gehalten.
    Vielen Dank für die Anregung, sich an die (schon lange gewesene) Reha-Klinik zu erinnern. Ich war damals in Bad Pyrmont.
    Liebe Grüße von Ingrid, der Pfälzerin

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    1. In der Klinik in Ahlbeck gab es damals auch einen Orthopäden, der schon in den Ruhestand hätte gehen können, das aber aufgeschoben hatte, weil man keinen Nachfolger für ihn fand. Mit ihm bin ich bestens zurechtgekommen. Er hatte ein offenes Ohr und hat genau verstanden, wo meine Probleme lagen und wo ich Unterstützung gebraucht habe. Er ist nun nicht mehr dort. Wen oder was ich anträfe, wenn ich wieder dorthin führe, weiß ich also nicht. Nach der Erfahrung mit dem Arzt in der letzten Reha-Klinik ist mir vorläufig die Lust vergangen.
      Liebe Grüße aus dem Niedersächsischen in die Pfalz :-)

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  2. Das ehrt mich sehr, dass ich dich zu diesem Artikel habe inspirieren können!
    Inzwischen bin ich ja wieder zurück aus dieser Reha-Bubble und muss mich nun im richtigen Leben zurecht finden. Das heißt: Niemand kocht für mich, niemand macht bei mir sauber und niemand macht mir einen Plan für meinen Tag! Ganz schön hart so ein Leben in freier Wildbahn ;-)
    Ich war zweimal in meinem Leben auf Reha. Das erste Mal habe ich es gehasst, nun habe ich es genossen. Trotzdem möchte ich sowas nicht mehr machen. Außer vielleicht, wenn man mich an die See schicken würde!
    Deine Erlebnisse sind ja sehr interessant und berührend. Und hart! Eine Stalkerin! Mein lieber Scholli.
    LG
    Sabiene

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    1. Ich hoffe, du verwahrlost jetzt nicht! ;-) Ich hätte hier noch mehr interessante Erlebnisse erzählen können, aber es sollte ja kein Roman werden. Bei einem der Usedom-Reha-Aufenthalte hatte ich sogar Kontakt zur Polizei!
      LG
      Ina

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