Ich bin das, was im Zeitungsvertrieb als "treue
Leserin" bezeichnet wird. Die Tageszeitung, die ich seit fast 30 Jahren abonniert habe und schon von meinen Eltern gelesen wurde, verabschiedet sich nach meinem Eindruck jedoch immer mehr von einem seriösen journalistischen Anspruch.
Ich hadere immer wieder damit, das Abo fortzusetzen. Ende Januar wurde dann ein Artikel abgedruckt, der mich der Entscheidung, mein Abo zu kündigen, ein Stück näher gebracht hat. Es ging um die Zerschlagung der Supermarktkette Real. Sie wurde von einem russischen Investor übernommen und wird nun scheibchenweise weiterverkauft. Einer der Standorte in Hannover, den es schon seit 1969 gibt, wird im Herbst endgültig geschlossen. Kein Wunder, diese Filiale ist in einem Zustand, den ich salopp als 'abgeranzt' bezeichnen würde.
Das Thema gehört selbstverständlich in den Hannover-Teil unserer Tageszeitung. Der Supermarkt liegt in einem Stadtteil mit mehr als 12.000 Einwohnern, viele von ihnen werden dort eingekauft haben und jetzt wissen wollen, wie es mit dem Laden weitergeht. Gefragt sind Informationen. Aber die Redakteurin hat eine andere Strategie gewählt:
Der erste Absatz beschreibt Waren, die eine namentlich genannte Stammkundin und ihre erwachsene Tochter in ihrem Einkaufswagen hatten, als sie von der Journalistin angesprochen wurden, das Verkehrsmittel, mit dem sie das Geschäft erreicht haben und die Art ihres Behältnisses, mit dem sie ihren Einkauf nach Hause transportieren. Darunter ist ein Foto, auf dem die beiden Frauen in winterlicher Kleidung mit ihrem vollen Einkaufswagen auf dem Gehweg unter dem grauen hannoverschen Himmel zu sehen sind. "Das ist eine richtig schlechte Nachricht. Wer hat das denn entschieden?", wird die Kundin zitiert.
Die Antwort hat die Zeitung selbstverständlich parat: "Die Verantwortung hat ...", hier wird der Name des Investmentunternehmens genannt, das sämtliche Supermarktfilialen gekauft hat und nun weiter veräußert - oder schließt, wenn einzelne Standorte nicht lukrativ sind. Die Verantwortung für diese Entwicklung hatte jedoch der vorherige Eigentümer Metro, der es über Jahre nicht geschafft hat, die Läden auf einen grünen Zweig zu bringen. Davon wird im Artikel allerdings nur in einer kurzen Äußerung eines Tabakwarenhändlers gesprochen, der sein Geschäft vor dem Kassenbereich betreibt. Hier wird das Klischee von Opfern (die Kunden, die Supermarktangestellten, die Ladenpächter) bedient, die unter dem Handeln eines Investors zu leiden haben. Keine Differenzierung, keine nähere Erläuterung, sondern nur Stereotype.
Die weitere Berichterstattung setzt sich aus Formulierungen wie "dem Vernehmen nach" oder "wahrscheinlich" sowie Spekulationen der Pächter und des Verkaufspersonals zusammen. Für nichts, was die Journalistin geschrieben hat, hat sie eine Quelle oder einen Beleg - nur die Schließung des Standorts steht fest. Es wäre ehrlicher gewesen, das zuzugeben oder nur über die Dinge zu schreiben, die man tatsächlich weiß. Aber dann wäre das ein ziemlich kurzer Text geworden.
Damit die Emotionen der Leserschaft zum guten Schluss noch mal ordentlich angetriggert werden, kommt ein Rentnerehepaar aus einer Kleinstadt in der Nähe Hannovers zu Wort, das seit 30 Jahren zur Stammkundschaft gehört. Die beiden werden abgelichtet, wie sie mit dem vollen Einkaufswagen am geöffneten Kofferraum ihres Autos stehen. Sie äußern ebenfalls ihr Bedauern über die Schließung. Nun ist die Weltuntergangsstimmung perfekt, der wolkenverhangene Himmel unterstreicht die Trostlosigkeit der Situation.
Dieses Beispiel ist eines von vielen, die mir immer wieder in unserer Tageszeitung auffallen. Das ist das Niveau eines Boulevardblattes, aber nicht eines Printmediums, das den Anspruch hat, seine Leser informieren zu wollen. Außerdem passt der Artikel so "schön" in die derzeitige eingetrübte Stimmung, in der viele ein paar gute Nachrichten gebrauchen könnten.
Ich denke jetzt darüber nach, ob ich mich aus dem Kreis der "treuen Leser" verabschieden soll. Wenn Emotionen wichtiger werden als Tatsachen, sägt das an der Glaubwürdigkeit eines Mediums. Ich möchte allerdings Fakten lesen und keine Mutmaßungen. Ist das zu viel verlangt?
Ich finde nicht, dass das zuviel verlangt ist, mir sind ehrliche, kurze Informationen auch lieber als aufgeplustertes Blablabla.
AntwortenLöschenDas sehe ich genauso. Mich nervt einfach, dass lang und breit über Sachverhalte fabuliert wird, deren Wahrheitsgehalt niemand kennt. Das ist nicht das, was ich von einer Tageszeitung erwarte.
LöschenEs ist heutzutage üblich, dass alles aufgebauscht wird. Kurze und sachliche Informationen sind selten geworden. Jedenfalls empfinde ich es so.
AntwortenLöschenEine Zeitung habe ich nicht (mehr) abonniert. Statt dessen lese ich nur online die Titel der Berichte von zwei regionalen Zeitungen und bin froh, dass ich kein Altpapier entsorgen muss.
Was ich stattdessen mag, sind ehrliche Berichte von Leuten wie Du und ich, beispielsweise in den Blogs.
Auch in unserer Stadt wurde der Real-Markt geschlossen. Viele Leute reagierten empört darauf, was ich nicht verstand. Dieser Markt war ebenfalls 'abgeranzt'. Jetzt ist ein neuer Markt einer anderen Kette eröffnet. Er ist sauber, neu und sehr beliebt bei den Kunden. Sie haben jetzt also einen Vorteil gegenüber früher. Alles gut!
Ingrid, die Pfälzerin wünscht Dir Schwimmflossen, um die Regenzeit gut zu überstehen.
In unserer Kleinstadt an der südlichen Stadtgrenze von Hannover gibt es ebenfalls einen Real-Markt, der nicht geschlossen wird. Er soll zu den bundesweit umsatzstärksten gehören, sodass bis jetzt nur die Frage im Raum steht, welcher der Interessenten ihn übernehmen wird. Die Bewohner des Stadtteils von Hannover, um den es in meinem Text geht, werden auch künftig keine Not leiden müssen, sondern können auf andere Läden ausweichen. Und im Lebensmitteleinzelhandel wird Personal gesucht, das hat mir eine Freundin, die in der Branche arbeitet, bestätigt. Die Situation ist also nur sehr begrenzt dramatisch.
LöschenIch habe noch zwei überregionale Zeitungen digital abonniert, sodass die Tageszeitung nicht meine einzige tägliche Informationsquelle ist. Aber der letzte dünne Faden, an dem mein Abo noch hängt, ist, dass ich wissen möchte, wo z. B. Baustellen und Straßensperrungen sind, was sich in meiner Gegend tut usw. Ich glaube, wenn es die Möglichkeit gäbe, nur die Lokalbeilage der Tageszeitung zu abonnieren, würde ich das machen.
Ich wünsche dir ebenfalls, dass Du gut durch diese grässliche Wetterphase kommst. Hier soll es kalt und sehr windig werden, "garniert" mit reichlich Schnee. Da hilft nur viel Schoki;-)
Die HAZ ist nicht erst seit Kurzem schlecht, sondern locker seit 10 Jahren. Demgegenüber haben andere Großstädte deutlich bessere Tageszeitungen und vor allem mehrere Tageszeitungen auf einem Niveau zur Verfügung. Die HAZ muss spüren, wie sich Leser abwenden, sonst tut sich da nie was.
AntwortenLöschenDiesen Trend habe ich leider auch beobachtet, aber da die einzige Alternative aus dem selben Haus kommt und leider noch schlechter ist, bleibt nur diese Tageszeitung mit lokalem Bezug übrig. Das hält vermutlich viele Leser davon ab, sich von ihr abzuwenden.
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