Sind Briefe noch "in"?

In der 5. Klasse hatten wir eine sehr rührige Englisch-Lehrerin, die Wert darauf legte, nicht nur einfach vorn an der Tafel zu stehen und das Lehrbuch hübsch der Reihe nach durchzugehen. Sie wollte, dass wir einen "Draht" zu der Sprache finden und sie als lebendig empfinden. Die Lehrerin kannte eine Organisation, die Brieffreundschaften zwischen deutschen und britischen Schülern vermittelte, und nutzte diesen Kontakt.

Sie bat diejenigen von uns, die sich für dieses Angebot interessierten, sich schriftlich vorzustellen. Diese kurzen Texte wurden dann von ihr an die Organisation weitergeleitet und es begann eine Zeit des Wartens. Würden sich überhaupt britische Gleichaltrige finden, die an einem Austausch mit uns - in unserem noch sehr holprigen Englisch - Interesse hätten?

Nach ein paar Wochen hielt mir meine Mutter lächelnd einen Briefumschlag mit einem blau-roten Rand entgegen: ein Luftpostbrief aus England! Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich ziemlich aufgeregt war, als ich den Umschlag aufriss: Wer hatte mir geantwortet? War es ein Junge oder ein Mädchen? Was würde  er oder sie wohl erzählen?

Es war ein Mädchen, das so alt war wie ich und in Swindon in der Grafschaft Wiltshire wohnte. Wir haben uns mehrere Jahre geschrieben, aber irgendwann wurden die Abstände zwischen den Briefen immer länger, bis die Post dann ganz ausblieb. Kennengelernt haben wir uns nie, auch nicht telefoniert. Telefonieren war damals in den 1970-er Jahren ein teurer Spaß. Ich habe gelesen, dass noch 1996 ein Ferngespräch in der teuersten Tageszeit umgerechnet 32 Cent pro Minute gekostet hat. Unter einem Ferngespräch wurde ein Telefonat innerhalb Deutschlands in einer Entfernung von mehr als 200 Kilometern verstanden. Ein Auslandstelefonat nach Großbritannien war noch einmal deutlich teurer.

Die Zahl der Briefe, die ich innerhalb eines Jahres dann später geschrieben habe, sank mit meinem zunehmenden Alter. Derzeit liegt sie bei höchstens einem Brief pro Jahr. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter zu Geburtstagen und zu Weihnachten Briefe oder Briefkarten geschrieben hat. Das war für sie selbstverständlich. Zu denselben Anlässen trudelten auch bei uns etliche Briefe ein.

Meine persönliche Brief-Bilanz der letzten Jahre lag zu Weihnachten bei genau null: keine geschrieben, keine bekommen. Statt dessen gab es Telefonate, Nachrichten über den Messenger mit dem weißen Telefonhörer auf grünem Grund oder freundliche Wünsche in den sozialen Netzwerken.

In diesem Jahr lagen kurz vor Weihnachten gleich mehrere Briefe und Karten im Briefkasten. Ich war überrascht - und habe mich sehr gefreut. So sehr, dass ich jetzt darüber nachdenke, wieder mit dem Briefeschreiben zu beginnen. Aber ich will es nicht übertreiben und werde erstmal mit Karten anfangen. Die neu gewonnene Motivation soll ja nicht gleich durch Übertreibung abgewürgt werden. Ich bin selbst gespannt, wie lange mein neuer guter Vorsatz anhält.

Kommentare

  1. In meiner Jugendzeit hatte auch ich einige Brieffreundschaften geschlossen. Wir schrieben uns ab und zu, aber ich erinnere mich nicht mehr an Texte und Namen.
    Dank einer App ist eine Gratulation in wenigen Sekunden geschrieben und abgeschickt. Echte Briefe schreibe ich mit meinen Bekannten und Verwandten schon lange nicht mehr.
    Obwohl ich es schön finde, wenn überraschend ein Umschlag im Briefkasten liegt, der hübsch frankiert ist und keine Werbung oder Rechnung enthält.
    Ingrid, die Pfälzerin ist gespannt, ob Du Deinen Vorsatz mit dem schreiben von Briefen einhalten kannst.

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    1. Liebe Ingrid, ich bin mindestens so gespannt wie du! :D Ostern wäre ein Anlass, wo ich meinen Vorsatz umsetzen könnte. Ich bin noch optimistisch.
      LG von der Niedersächsin

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