Rübe ab!

Als ich heute für meinen Buchblog einen neuen Beitrag geschrieben habe, fiel mir wieder eine kurze Begebenheit ein. Das Buch, das ich dort neben drei weiteren vorstellen werde, heißt "Rübe ab!" und beschäftigt sich mit wahren Kriminalfällen der letzten 400 Jahre, die sich in Mecklenburg-Vorpommern zugetragen haben.

Ich habe es nicht in einem normalen Buchladen, sondern an einem Verkaufsstand in Dierhagen erworben. Dierhagen ist ein kleiner Ort, der am südlichen Ende der Halbinsel Fischland/Darß/Zingst liegt. Er wird im Westen von der Ostsee und im Osten vom Saaler Bodden eingerahmt. Ich war dort vor einigen Monaten mit einer Freundin, für uns beide war es das erste Mal, dass wir in diese Gegend kamen.

Unsere Reisezeit lag nicht in der Hochsaison, sodass die mecklenburgische Ostseeküste nicht mehr von Touristen überschwemmt war und man es sich dort gutgehen lassen konnte. An einem der Urlaubstage sind wir mit dem Auto nach Fischland/Darß/Zingst gefahren und haben unter anderem am Hafen in Dierhagen Dorf halt gemacht. Gleich am Parkplatz befindet sich ein größerer Grasplatz, auf dem mehrere Verkaufsstände aufgestellt worden waren: Kunsthandwerk, Gestricktes und Gehäkeltes und... Bücher!

Ich kann an keiner Buchauslage vorbeigehen, ohne nicht wenigstens einen klitzekleinen Blick darauf zu werfen. An diesem Tag war es nicht anders. Der Buchhändler bot sowohl antiquarische als auch neue Bücher an, und als ich meinen Blick schweifen ließ, blieb er an diesem Cover hängen:


Hand auf's Herz: Wer kann ein solches Buch ignorieren? Ich nahm das Ansichtsexemplar in die Hand, blätterte ein bisschen hin und her und sah mir einige der Fotos an. Der Händler, ein Mann in ungefähr meinem Alter, beobachtete mich zunächst nur. Als er mein Interesse bemerkte, stellte er sich neben mich. 

"Rübe ab!", sagte er und nickte schon im Voraus wegen des Satzes, der gleich noch kommen sollte. "Das hat manchmal schon etwas für sich."

"Wie bitte?" Ich stand auf der Leitung.
"Na ja", setzte er nach, "einfach ab mit der Rübe wäre doch manchmal ganz in Ordnung. Das denken wir doch alle, oder?"
Der Mann sprach tatsächlich über die Wiedereinführung der Todesstrafe! Und er glaubte, dass ich ihm zustimmen würde. Wie oft hatte er das schon zu seinen Kunden gesagt und damit offene Türen eingerannt?

"Nein, das denken ganz sicher nicht alle!" Ich spürte, wie meine Urlaubsstimmung eine Delle bekam. "Täter zu töten gehört nicht mehr in unsere Zeit und Zivilisation." Die Stimmung zwischen uns kühlte sich merklich ab.

"Ja, Sie meinen, dass es sein kann, dass man den Falschen hinrichtet. Nein, das geht natürlich nicht. Aber wenn man genau weiß, wer der Täter war, dann kann das ja nicht passieren. So, wie bei dem Mann, der die Frau und ihr Kind auf die Bahngleise geschubst hat. Der hat doch den Tod verdient!"

Ich wusste, was er meinte. Ende Juli 2019 hatte ein aus Eritrea stammender Mann eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn im Frankfurter Hauptbahnhof vor einen einfahrenden ICE gestoßen. Das Kind war sofort tot, die Mutter überlebte die Attacke. Ein gutes Jahr später diagnostizierte ein Gutachter bei dem Täter eine paranoide Schizophrenie, das Urteil des Landgerichts Frankfurt setzte eine dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie fest.

In meinem Umfeld gibt es keine Fans der Todesstrafe. Umso perplexer war ich, dass dieser mir völlig fremde Buchhändler darüber in einem so selbstverständlichen Tonfall sprach, als würde er mir empfehlen, meine Blumen mit Regenwasser zu gießen, damit sie besser gedeihen.

"Nein, auch dann ist eine Todesstrafe nicht zu rechtfertigen", entgegnete ich ihm. Er sah mich erstaunt an. Mir stand der Sinn nicht nach einer Diskussion. Von einer Minute auf die andere sank der Verkäufer auf meiner Sympathieskala wie ein fallender Stein. Klar, ich hätte sagen können, dass es erwiesen ist, dass sich die Opfer eines Verbrechens (oder ihre Angehörigen) keinen Deut besser fühlen, wenn dem Täter durch den Staat der Garaus gemacht wird. Auch, dass kein Opfer durch diese Bestrafung wieder lebendig wird und die Todesstrafe schon gar nicht zur Abschreckung taugt... All das und noch mehr hätte ich sagen können und habe es nicht getan. Ich wollte nur noch weg von diesem Menschen. Ich habe das Buch bezahlt und meine Freundin und ich sind gegangen.

Mich hat dieser kurze Dialog noch eine Weile beschäftigt. Wenn das nicht so wäre, gäbe es ja auch keinen Grund, diesen Text zu schreiben. Die Haltung des Mannes zur Todesstrafe zeigte mir auch, dass es eine Menge Leute zu geben scheint, die unter einem Gerichtsurteil nach einer Straftat ein Instrument der Rache sehen. Manchmal bricht auch in der heutigen Zeit der Wilde Westen wieder durch.


Nachtrag: Der Beitrag, in dem u. a. auch das Buch Rübe ab! vorgestellt wird, wird unter https://inasbuecherkiste.blogspot.com am 18. Dezember 2020 veröffentlicht.

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