Müll im Briefkasten

Gestern Abend, als die Post- und Paketboten schon
Feierabend hatten, schepperte die Klappe unseres Briefkastens noch einmal. Jemand hatte einen Flyer eingeworfen, dessen erste Seite mit "Einsame Weihnachten?" betitelt war. Was war das nun schon wieder?

Im kurzen Einleitungstext ist von der Sorge, dass in Zukunft auf "jegliche Infektionswellen" mit dem Wegsperren der Alten, dem Raub der Bildungschancen für die Jungen und einem Lockdown reagiert wird, die Rede. Welche Infektionen konkret gemeint sind, wird nicht genannt. Mein erster Reflex: Ab ins Altpapier mit dem Mist. Mir schwillt der Hals, wenn mit unheilschwangeren und inkonkreten Szenarien hantiert wird. In meinen mehr als 50 Lebensjahren hat es einige Infektionswellen gegeben, auf die nie mit einem Lockdown reagiert wurde. Man ahnt also zunächst nur, dass die aktuelle Covid-19-Pandemie gemeint ist. 

Am Ende der ersten Flyer-Seite ist ein grüner Balken mit einer Internetadresse, die zum Verein in Gründung "Freiheitsboten" führt. Gründer ist nach den Angaben auf der Vereinsseite der mittlerweile hinlänglich bekannte Dr. Bodo Schiffmann: selbsternannter Seuchenexperte, In-Verkehr-Bringer von Gruselgeschichten ('drei Tote Kinder durch das Maskentragen') und Gründer einer Gruppierung, die sich als Partei bezeichnet - und die er mittlerweile wieder verlassen hat. Die Vereinsmitglieder wollen nicht ihre private Meinung äußern und sehen sich nicht als Faktenchecker, beziehen sich aber auf einen festen Kreis von Wissenschaftlern. Aus dem Zusammenhang gerissen wird Prof. Ioannidis von der Stanford University zitiert, der in einer Metastudie für die WHO zu dem Ergebnis gekommen ist, dass Covid-19 tödlicher als die Grippe, jedoch weniger gefährlich als bislang angenommen ist. Dass Prof. Ioannidis das Ergebnis selbst wegen der unbekannten Infektionszahl relativiert hat und davon ausgeht, dass die Infektionssterblichkeit durch den Schutz von Risikogruppen weiter gesenkt werden kann, bleibt sowohl im Flyer als auch auf der Freiheitsboten-Website unerwähnt. Es passt wohl einfach nicht ins selbstgemalte Bild.

Der Innenteil des Flyers gibt sich der weiteren Verharmlosung der Pandemie hin. Wer wissen will, wie sich mit seriösen Daten eine schiefe Darstellung erzeugen lässt, findet hier ein Paradebeispiel: Auf der Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes wird "bewiesen", dass es keine durch Covid-19 erzeugte sog. Übersterblichkeit gegeben hat. Zum Vergleich werden die Verlaufskurven der täglichen Sterbefallzahlen aus den Jahren 2018 und 2020 herangezogen. Allerdings weist die Behörde selbst darauf hin, dass die Sterbezahlen im April 2020 deutlich über denen der Vorjahre lagen und gleichzeitig die mit Covid-19 zusammenhängenden Todesfälle angestiegen waren. Wie kann das sein, ihr Freiheitsboten?

Im weiteren Text wird als zusätzlicher Beleg für die angeblich übertriebenen Maßnahmen der Regierung gewertet, dass Krankenhäuser und Arztpraxen im Frühling 2020 Kurzarbeit angemeldet hatten. Den Lesern wird suggeriert, dass die Pandemie so schlimm nicht sein kann, wenn das ärztliche und Pflegepersonal so wenig zu tun hat, dass es gewissermaßen einen Teil seiner Arbeitszeit Löcher in die Klinikluft starrt. Auf den ersten Blick wirkt diese Schlussfolgerung plausibel. Leider werden auch hier wieder einmal unerwünschte Fakten ignoriert: Kliniken mussten weniger dringende Operationen verschieben, um Kapazitäten für Covid-19-Patienten - insbesondere auf den Intensivstationen - freizuhalten. Dadurch waren etliche Bereiche nicht mehr ausgelastet. Da Patienten aus Sorge vor der Infektionsgefahr auch um Arztpraxen einen Bogen machten, liegt nahe, warum niedergelassene Mediziner ebenfalls Kurzarbeit angemeldet hatten.

Weiterhin behaupten die Autoren des Flyer-Textes, dass die Wirkung des Maskenzwangs fraglich ist. Man sollte meinen, dass sich das Gegenteil in den letzten Monaten herumgesprochen hat, aber das scheint ein Irrtum zu sein. Mehrere Studien belegen, dass das Maskentragen die Ausbreitung des Covid-19-Virus' bremst. Beispielsweise kommt eine kanadische Studie zu dem Ergebnis, dass mit dieser Maßnahme die Zahl der Infektionen um 25 % reduziert wird und eine landesweite Verpflichtung zum Maskentragen in Kanada im August 2020 die Infektionsrate um 25 bis 40 % hätte verringern können.

Der Flyer stellt die Fakten auf den Kopf mit dem Ziel, alle Maßnahmen, die dem Infektionsschutz dienen, zu verunglimpfen und ihre Wirksamkeit infrage zu stellen. Auf dieser schlicht falschen Argumentation beruht die Forderung nach der Rückkehr zur Selbstverantwortung und "vernünftiger gesellschaftlicher Abwägung". 

Als positives Beispiel für eine "zurückhaltende und humane" Reaktion wird ausgerechnet Taiwan genannt, weil die Regierung dort auf einen Lockdown verzichtet hatte. Dort werden allerdings Menschen, die sich in ihrer Wohnung isolieren, mithilfe der Ortungsfunktion ihres Smartphones überwacht. Wer diese ausschaltet oder mit seinem Smartphone sein Zuhause verlässt, löst sofort einen Alarm bei der Gesundheitsbehörde und der Polizei aus - sogar dann, wenn der Verstoß nur wenige Sekunden dauert. Das Fehlverhalten wird mit drakonischen Bußgeldern geahndet. Was würden die "Freiheitsboten" wohl sagen, wenn unsere eigene Regierung so vorginge?
Zweifellos kam auch die Wachsamkeit der taiwanesichen Behörden der Eindämmung von Covid-19 zugute: Man ist dort nach den Erfahrungen aus der Vergangenheit (z. B. bei der Afrikanischen Schweinepest) bei allem auf der Hut, was von China aus ins Land kommen könnte.

Der Text auf der ersten Flyerseite wird auf der letzten wortgleich wiederholt, diesmal trägt er jedoch die Überschrift "Unser Weinachtswunsch". Darunter sind die Professoren Bhakdi und Homburg abgebildet, die sich hier für den Verein "Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie e. V. (MWGFD)" ins Zeug legen. Bhakdis 2020 veröffentlichtes Buch Corona Fehlalarm? wurde in der Fachwelt verrissen, seine frühere Universität distanzierte sich von ihrem emeritierten Professor. Homburg fiel bei seiner ehemaligen Universität ebenfalls in Ungnade, nachdem er auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen aufgetreten war, Mitte Mai 2020 mit einem Tweet den Bogen zur Nazi-Diktatur schlug und Ende Mai mit einem weiteren Tweet die Botschaft "CORONA-INFEKTIONEN SIND PRAKTISCH GLEICH NULL" verkündete. Mehr Realitätsferne geht nicht.

Einige "Fun-Facts"

Der im Mai 2020 in Passau gegründete MWGFD hat selbstverständlich eine Satzung, wie es sich für einen ordentlichen Verein gehört. Sie umfasst übersichtliche neun Paragraphen. Das Finanzamt Passau hatte dem Verein zunächst dessen Gemeinnützigkeit zugesprochen, sie ihm jedoch Ende Oktober 2020 bereits wieder entzogen. Hintergrund soll eine Satzungsänderung gewesen sein. Nach eigenen Angaben geht der Verein nun dagegen vor. Das Finanzamt darf wegen des Steuergeheiminisses keine Auskünfte zu diesem Vorgang geben, sodass nur vermutet werden kann, dass die Entziehung mit den Vereinsaktivitäten zusammenhängt, die auf ein Untergraben der politischen Entscheidungen abzielen.
§ 9 der Satzung beschäftigt sich mit "Satzungsänderungen und Auflösung". Unter der Nr. 3 findet sich diese Passage: "Bei Auflösung, bei Entziehung der Rechtsfähigkeit des Vereins oder bei Wegfall der steuerbegünstigten Zwecke fällt das gesamte Vermögen an die „Lebenshilfe Passau für Menschen mit Behinderung e.V.“, Kastenreuth 16-18, 94034 Passau. Vereinsregister: VR 453, Registergericht: Passau, die es unmittelbar und ausschließlich für gemeinnützige bzw. mildtätige Zwecke zu verwenden hat." Wer sagt der Lebenshilfe Passau Bescheid?

Der Flyer ist mit Fotos bestückt, die die Emotionen der Empfänger antriggern sollen. Auf Seite 1 ist eine Seniorin abgebildet, die ihren Kopf auf ihre gefalteten Hände stützt und nachdenklich durch eine regennasse Fensterscheibe in die Ferne schaut. Schräg hinter ihr sind schwach eine Mutter und ihre kleine Tochter zu sehen, die sich mit einem Adventsgesteck beschäftigen. Die Fotocollage steht vermutlich für die Einsamkeit der alten Dame.
Im Innenteil des Flyers ist das Foto einer anderen Seniorin abgebildet, die mit einem Kaffeebecher in der Hand auf einem Sofa sitzt und traurig ihren Kopf in eine Hand stützt. Neben dem Sofa steht ein Weihnachtsbaum. Die Botschaft ist auch hier klar.
Beide Fotos stammen von der kanadischen Bildagentur istockphoto.com, die je nach dem von ihren Kunden gezahlten Preis Fotos unter verschiedenen Lizenzbedingungen anbietet. Der MWGFD nimmt es mit den Urheberrechten allerdings nicht so genau: Obwohl die Lizenzvereinbarung ausdrücklich die Nennung des Urhebers bei einer redaktionellen Verwendung der Fotos vorsieht, gibt es im Flyer keinen Hinweis darauf. Weiß jemand, was das den Verein kosten kann?

Und jetzt? Jetzt darf der Flyer dorthin, wo er hingehört: in den Papiermüll.

Kommentare

  1. Danke für diesen Beitrag. Es war schön, hier endlich mal wieder etwas zu lesen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen Dank, ich freue mich über deine positive Rückmeldung. LG

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Und hier ist Platz für deinen Kommentar: