Der Patient ist schuld!

Ich sehe mir, wenn ich morgens meine "Runden" auf dem Ergometer mache, Serien oder Dokus an, die die Seite mit dem weißen Pfeil auf rotem Grund bereithält. Ohne Unterhaltung ist stumpfes Vor-sich-hin-Strampeln gar nicht auszuhalten.


Kürzlich bin ich zufällig auf einen Beitrag des WDR gestoßen, der sich mit Ärztefehlern beschäftigte. Es wurde eine Frau gezeigt, die als noch sehr junge und unerfahrene Ärztin allein für 20 Patienten verantwortlich gewesen war ("Danke" an die perfekte Krankenhausorganisation, wessen Schuld sie in diesem Fall auch immer war) und durch einen Moment der Unachtsamkeit einen folgenschweren Fehler gemacht hatte.
Es wurde auch über einen erfahrenen Chirurgen berichtet, dem während einer Tumor-OP ebenfalls ein Fehler passiert war, der die Überlebenschancen seines Patienten dramatisch verringert hatte.


Im Film wurde auch gezeigt, dass in immer mehr Kliniken die in Deutschland bisher übliche Kultur des Schweigens und Leugnens, wenn es zu ärztlichen Fehlern gekommen war, mit regelmäßigen Fehlerkonferenzen durchbrochen werden soll. Das ist bestimmt ein großer Schritt nach vorn, aber immer noch viel zu wenig, um Patienten so gut wie möglich zu schützen.

Ich will hier nicht weiter auf das unterfinanzierte deutsche Gesundheitssystem eingehen, das vor allem durch den großen persönlichen Einsatz des Krankenhauspersonals (noch) ziemlich gut funktioniert. Es geht mir hier um die Art und Weise, wie mit Fehlern in Kliniken umgegangen wurde und wird.

Während die Ärztin und der Chirurg zu Wort kamen, habe ich mich an meine eigenen Erfahrungen mit ärztlichen Fehlleistungen erinnert. Sie reichen zurück bis Ende der 1960-er Jahre. Ärzte waren damals die "Halbgötter in Weiß", und der Respekt vor dem, was sie in ihren Sprechzimmern oder OP-Sälen sagten oder taten war nach meinem Eindruck deutlich größer als heute.

Ich war als kleines Kind ab 1968 mehrere Male und auch sehr lange "Stammgast" in einem in dieser Region sehr bekannten orthopädischen Krankenhaus. Die Existenz dieser Klinik geht auf eine wohlhabende Stifterin zurück, Zeichen des christlichen Menschenbildes zeigten sich alle paar Meter durch Kreuze an den Wänden und über die Flure huschende Diakonissen. Die Atmosphäre war bedrückend, der Grad der menschlichen Zuwendung durch die Krankenschwestern war - zumindest den Kindern gegenüber - bei nahe null.

In solch einem Umfeld waren Ärzte hoch geachtete Personen. Kritik an ihrer Arbeit geriet schnell in die Nähe von Majestätsbeleidigung. Es war allgemein bekannt, dass sich Patienten, die glaubten, Opfer eines ärztlichen Kunstfehlers geworden zu sein, den Gang zum Gericht sparen konnten, weil ihre Erfolgschancen so gering waren. In den jährlich veröffentlichten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes findet sich z. B. für das Jahr 1976 keine eigene Rubrik für Arzthaftungsfälle.

In diesem Krankenhaus war lange ein Professor tätig, der einen sehr guten Ruf genoss. Er schlug meinen Eltern immer wieder neue Operationsmöglichkeiten für mich vor, mit denen er es erreichen wollte, dass ich endlich lernen würde, normal zu gehen. Jedes Mal lief das nach diesem Muster ab: Die OP-Methode wurde als neuer Hoffnungsbringer beschrieben, die OP wurde durchgeführt, mein Gehvermögen blieb bescheiden. Aber daran war natürlich nie der Herr Professor schuld! Nein, schuld war immer ich: "Das Kind macht zu wenig Krankengymnastik!", lautete nach jedem verpfuschten Eingriff sein Urteil. Ich ging mehrmals pro Woche zur Krankengymnastik und hatte etliche Jahre sogar eine Sprossenwand im Keller, an der ich Übungen machen konnte. Ich fuhr Fahrrad, ging zum Schwimmen und tat, was ich konnte - aber es nützte nichts. Da war diese immer gleichförmig vorgetragene Aussage des Skalpellhalters ein Schlag ins Gesicht. 

Meine Eltern und ich hatten nach einiger Zeit genug von diesem Kreislauf, der für uns alle sehr belastend war, und hörten sich nach einem anderen fähigen orthopädischen Chirurgen um. Die Überlegung, den Arzt zu verklagen, wurde in unserer Familie diskutiert, aber dann wegen voraussichtlicher Aussichtslosigkeit verworfen. Damals galt in weiten Teilen der Ärzteschaft: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Und da die Grundlage für eine Arzthaftungsklage immer ein ärztliches Gutachten sein würde, war die Erfolglosigkeit praktisch vorprogrammiert.

Dieser Professor von damals kam mir wieder in den Sinn, als ich die WDR-Sendung sah. Fehlermanagement wäre für ihn vermutlich ein Graus gewesen, man hätte ja etwas zugeben müssen.
Meine Mutter hat mir vor über 25 Jahren einen Artikel in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung gezeigt. Er wurde anlässlich der Zurruhesetzung des Professors geschrieben. Der Redakteur bezeichnete den Arzt dort als jemand, der niemals ein sog. Halbgott in Weiß gewesen sei, sondern immer den Menschen helfen wollte. Eigentlich hätte sich das Zeitungspapier bei dieser Passage wellen müssen, aber Papier ist ja bekanntlich geduldig. 

Etliche Jahre danach habe ich mir in dem Krankenhaus meine ziemlich dicke Patientenakte geben lassen. Ich wollte wissen, ob das, woran ich mich erinnerte, stimmte. Und das tat es: Meine Erkenntnis war, dass ich zum Teil als Versuchskaninchen hergehalten hatte, ohne dass es meinen Eltern bewusst gewesen war. Aber bestimmt hätte ich meine Situation mit noch mehr Krankengymnastik verbessern können.

Nicht.

Kommentare

  1. Das ist ja ungeheuerlich! Und es ist eine Zumutung, neue Verfahren an einem kleinen Kind auszuprobieren, besonders wenn diese mit Operationen zu tun haben.
    Du hast Recht, damals war es unmöglich, sich gegen einen pfuschenden Arzt zu wehren. Oder überhaupt gegen einen "Herrn Doktor"!
    Auch, wenn Fehler menschlich sind, ist es gut, dass sich heutzutage die Umstände ein wenig verbessert haben.
    Hast du heute schon deine Krankengymnastik gemacht? ;-)
    LG
    Sabiene

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    1. Das habe ich tatsächlich! Und ich bin trotz des Windes und des Schneeregens mit dem Fahrrad zur Praxis gefahren! *michselbstaufdieSchulterklopf* Ich habe vor Jahren mal meinem Orthopäden, der dieses Krankenhaus auch gut kennt, erzählt, was man damals mit mir gemacht hat. Er hat nur fassungslos den Kopf geschüttelt. An den Professor habe ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gedacht. Erst bei der Doku kam er mir wieder in den Sinn.
      LG

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  2. Der Patient ist schuld, weil er krank geworden ist. Makaber, aber so dachte man in den 60er Jahren. Ich wurde von der Mutter ausgeschimpft, wenn ich Fieber oder Durchfall hatte. 'Musst Du jetzt gerade krank werden!'
    Mit Ärzten habe ich in den vielen Jahren meines Lebens fast nur schlechte Erfahrungen gemacht. Entweder waren sie ohne Interesse oder haben nur flüchtig untersucht oder falsche Diagnosen gestellt. Absicht war es sicher nicht, sondern Desinteresse an meiner Person. Ich war ein Mädchen. Mit Jungs bzw. Männern ist unser Hausarzt heute noch viel aufmerksamer. Deshalb gehe ich auch nur hin, wenn es unbedingt sein muss.
    Dass Du als Kind dieses Leid erfahren musstet, ist traurig. Jedoch kein Einzelfall. Unser Sohn war auch ein Problemkind und wir mussten mit ihm zur Uniklinik. Der Professor war nur an einer Erforschung der Krankheit interessiert und nicht an dem Kind selbst.
    Gut, dass Du über Deine Erfahrungen hier berichtet hast. Darüber reden befreit und wie man sagt: Geteiltes Leid ist halbes Leid.
    Tröstende Grüße von Ingrid, der Pfälzerin

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    1. Von meinen Eltern wurde mir dieses Gefühl, an der Behinderung oder einer - wie bei dir - profanen Erkrankung schuld zu sein, zum Glück nie vermittelt. Ich habe in meiner "Karriere" mit der Behinderung ein ganzes Fuder von Ärzten kennengelernt und gerade unter den Orthopäden war mein persönlicher Eindruck, dass sie mich als Patientin eher technisch gesehen haben, so wie man eine kaputte Maschine beäugt. Das passt zu dem, was du über die Erfahrungen schreibst, die ihr wegen eures Sohnes in der Uniklinik gemacht habt.
      Die Missachtung von Mädchen und Frauen zieht sich erwiesenermaßen wie ein roter Faden durch fast alle Lebensbereiche. Ich habe vor einiger Zeit in meiner Bücherkiste "Unsichtbare Frauen" von Caroline Criado-Perez vorgestellt. Das Buch kann ich unbedingt empfehlen. Dort wird aufgezeigt, wie groß die tägliche Benachteiligung von Frauen jeden Tag tatsächlich ist. Vieles davon nimmt man schon gar nicht mehr wahr, was es nicht besser macht.
      Ich sende dir winterliche Grüße aus Niedersachsen (mit sehr wenig Schnee) ;-)

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