Wenn die Toten auferstehen


Keine Frage: Es gibt zwischen Völkern oder Ethnien in grundsätzlichen Dingen kulturelle Unterschiede. Das betrifft nicht nur die Kunst oder das Verhältnis zur Berufstätigkeit, sondern auch die Einstellung zum Tod. So erkläre ich mir, dass das, was ich hier schildere, mich - um es dezent auszudrücken - befremdet hat, in Südkorea aber viel Zuspruch erhielt.

Vor einiger Zeit bin ich auf einer Nachrichtenseite auf eine Meldung gestoßen, die mit einem Video verknüpft war. Es ging dort um eine südkoreanische Mutter, deren Tochter vor einigen Jahren im Alter von sieben Jahren an Leukämie gestorben war.

Ein Fernsehsender hat der Mutter nun ermöglicht, dem technisch nachgebildeten Abbild der Tochter noch einmal zu begegnen. Mithilfe von Virtual Reality wurde alles, was das Kind ausgemacht hatte - von der körperlichen Erscheinung bis zur Art zu sprechen - nachempfunden. Die Mutter trug bei der "Begegnung" mit ihrer Tochter eine VR-Brille und spezielle Handschuhe, mit denen sie das Mädchen "spüren" konnte.

Die ersten Worte der Tochter an die Mutter waren: "Mama, wo bist du gewesen? Ich habe Dich so vermisst - Du mich auch?" Die Mutter brach in Tränen aus und hat die virtuelle Tochter ihrer Liebe versichert.

Ich habe mir das Video beim ersten Mal fassungslos angesehen. Diese Szene war buchstäblich herzzerreißend, man hätte mitheulen können. Die Mutter hatte den Wunsch geäußert, ihr Kind noch einmal sehen und sich von ihm ein letztes Mal verabschieden zu können. Diesen Wunsch hatte man ihr auf diesem Weg erfüllt. In Südkorea wurde das Video sehr populär, die Produktion erhielt viel Zuspruch.

Ich war anschließend hin und her gerissen. Ist diese Art der "Wiederauferstehung" ethisch in Ordnung? Hat man der Mutter des Mädchens wirklich einen Gefallen getan oder hat das Erlebnis zu einer seelischen Erschütterung geführt, die es ihr noch schwerer macht, den Verlust ihres geliebten Kindes zu verarbeiten? Und warum haben die Techniker dem virtuellen Kind ausgerechnet diese Sätze in den Mund gelegt? Die emotionale Aufgewühltheit der Mutter war unübersehbar.

Ich will das nicht bewerten, schon weil ich glaube, dass die Sichtweise der Südkoreaner auf das Leben und den Tod eine andere ist als die der Europäer. Aber immerhin sind mehr als die Hälfte der Südkoreaner Christen, etwa 45 % sind Buddhisten. Geben die Religionen Raum für eine kurze virtuelle Wiederauferstehung? Oder spielt da etwas ganz Anderes eine Rolle? Ich weiß es nicht. Aber für mich selbst kann ich sagen, dass mir die Vorstellung schwerfällt, mich in so eine Situation wie die zwischen der Mutter und ihrer toten Tochter zu begeben. Ich stelle mir das so vor, als würde man sich selbst kasteien.

Noch mal den längst verstorbenen Künstler auf der Bühne sehen?

Zufällig habe ich einen Artikel über eine Hologramm-Show gelesen, bei der Whitney Houston wieder zum Leben erweckt wurde. Die Show sollte auch durch Deutschland touren, wurde dann aber wegen Covid-19 abgesagt. Man sieht Whitneys Abbild über die Bühne schweben und irgendwo drückt jemand im Hintergrund bei jedem neuen Song auf "Play". Soweit ich das gesehen habe, treten auch lebende (!) Künstler auf und singen mit Whitney im Duett. Das Ganze wird von einer Tanz- und Lichtshow eingerahmt.

Mir fällt dazu nicht mehr viel ein. Ich sag mal so: Im Dezember 1999 waren wir bei einem Konzert von Joe Cocker. Das war toll, die Stimmung war super, wir haben laut mitgesungen. Oder gegrölt... Wie auch immer. Cocker stand da vorn, manchmal leicht schwankend, und hat für eine großartige Atmosphäre gesorgt. 15 Jahre später ist er gestorben. Wenn ich seine Musik jetzt hören will, höre ich sie aus der Konserve. Das ist so in Ordnung, denn die Erinnerungen an das Konzert habe ich in mir. Warum sollte ich mir einen Holo-Joe ansehen? 

Aber nun ist es offenbar nicht mehr genug, tote Künstler quasi zu reanimieren. Die nächste Stufe sind virtuelle Kunstfiguren, die dem Publikum eine Show bieten. Ihre Stimme stammt von einem Menschen, es gibt echte Tänzer, der Rest ist Technik. Auch darauf bin ich zufällig gestoßen. Ein Beispiel ist Maya Kodes: Maya ist blond und hat saphirgrüne Augen. Ihre Musik kann man bei Spotify und iTunes kaufen, und auf ihrer Homepage wird sie in Alltagsszenen  eingebettet wie zum Beispiel einen Museumsbesuch oder Joggen. Für mich ist diese Kunstfigur maximal merkwürdig. Warum geht man in "Konzerte" von "Künstlern", an denen nichts Echtes ist? Ich kann daran nichts erkennen, was ich gern erleben würde. Oder kurz gesagt: Ich bin raus. Richtet Whitney schöne Grüße von mir aus, wenn ihr sie seht.

Kommentare

  1. Auf Instagram finden schon seit längerer Zeit humanoide "Roboter", wie lilmiquela, Zuspruch. Mit offensichtlich computergenerierten Bildern aus dem täglichen Leben von ihnen soll wohl die Illusion eines echten Lebens erzeugt werden. Von Arte gab es sogar eine Doku dazu. Wer schaut sich das freiwillig mehr als einmal an?

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    1. Ich habe keine Ahnung. Dabei finde ich Hologramme für verschiedene Zwecke durchaus gut, aber eben nicht, damit Menschen vor mir stehen, die längst tot sind. Hach, das gute alte Holodeck auf dem Raumschiff Enterprise wäre doch mal was... ;-)

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