Wohin führt unser Weg? Über verlorene Grundsätze und moralische Ansprüche

Ich hatte eigentlich vor, einen ganz anderen Text zu schreiben. Einen, in dem ich von einer sehr schönen Veranstaltung erzählen wollte, die ich kürzlich mit meinem Mann besucht habe.

Der Text darüber wartet jetzt darauf, zu Ende geschrieben zu werden. Ich saß davor, sah mir die ersten beiden schon hochgeladenen Fotos an und hatte das deutliche Gefühl, dass dafür jetzt der falsche Zeitpunkt ist. Warum? Das hat zwei Gründe. Genauer: zwei Ereignisse, die nichts miteinander zu tun haben.

In Thüringen ging's um die Wurst - mit gelbem Senf und brauner Soße

Seit gestern brennt in der deutschen Politik und
Staatskanzlei in Erfurt
Gesellschaft die Luft. Das Ergebnis der Thüringer Landtagswahlen vor drei Monaten war schwierig, der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow von den Linken trat zur Wiederwahl an. Die Linke wurde 2019 zwar stärkste Partei, aber auf Platz 2 folgte die AfD - die Partei, über die alle anderen gesagt haben, nienienie mit ihr zusammenarbeiten zu wollen. Das Ende vom Lied: Im dritten Durchgang der gestrigen Wahl, an deren Ende ein Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten festehen sollte, erweiterte sich das Bewerberfeld um einen weiteren Herrn, Thomas Kemmerich von der FDP. Die FDP hatte nur mit Ach und Krach die 5-Prozent-Hürde für den Einzug in den Landtag geschafft. Doch in einer Sitzungspause scheinen Absprachen getroffen worden zu sein: Kemmerich wurde mit den Stimmen der CDU, der FDP und ausgerechnet der AfD gewählt. Es brach ein Sturm der Entrüstung los: Diese Wahl war ein riesiger Vertrauensbruch durch die FDP und die CDU, die immer beteuert hatten, sich niemals in irgendeiner Form mit der AfD einzulassen. Auch namhafte (ehemalige) Politiker der FDP und der CDU kritisierten deutlich das Verhalten ihrer Parteifreunde.


Während ich diesen Text schreibe, hat der frisch gewählte Kemmerich seinen Rücktritt angekündigt und die Auflösung des Landtags gefordert. Ist das Problem mit seinem Rückzug erledigt? Ganz sicher nicht. Das, was da gestern passiert ist, hat nicht nur zu einem riesigen Vertrauensschaden in die "etablierten" Parteien und politischen Amtsräger geführt. Es hat gezeigt, dass es den an dieser Kungelei Beteiligten nur um ihre eigene Macht und das Ziel ging, sich der Wiederwahl des bisherigen Ministerpräsidenten Ramelow in den Weg zu stellen. Dafür wurde der bislang gültige Konsens, auf jede Unterstützung der AfD zu verzichten, über Bord geworfen. Damit hat man der Demokratie geschadet, die Politikverdrossenheit vieler Bürger befeuert und Bevölkerungsgruppen verunsichert, die in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus' um ihr Leben fürchten mussten. Dieses unwürdige Ereignis im Thüringer Landtag wird man lange nicht vergessen.

Die Lebenslotterie

Das zweite Thema ist auf eine andere Weise
schockierend. Der Pharmahersteller Novartis hat ein Medikament für Kinder entwickelt, die an einer seltenen Erbkrankheit, der spinalen Muskelathrophie (SMA), leiden, die irgendwann zum Tod durch Ersticken führt. Das Präparat wird nur einmal verabreicht, hat aber den Makel, in Deutschland (noch) nicht zugelassen worden zu sein. Eine Dosis kostet rd. 2,1 Millionen Dollar. Nun hat das Unternehmen eine Lotterie ausgerufen: Weltweit sollen 100 erkrankte Kinder, die im Losverfahren ermittelt werden, eine Dosis gratis erhalten.

Die betroffenen Familien hoffen natürlich, dass ihr Kind zu den Ausgelosten gehört. Das kann man niemandem verdenken. Aber wenn ich mich in die Situation der Eltern hineinversetze, die den Namen ihres Kindes in die virtuelle Lostrommel geworfen haben und dann darüber benachrichtigt werden, dass ihr Kind leider, leider nicht zu den 100 Gewinnern gehört: Fühlt sich das nicht wie ein zweites Todesurteil an?

Ich finde dieses Vorgehen perfide. Da wird auf der einen Seite mit den Hoffnungen der Familien jongliert, um auf der anderen Seite einen Druck auf die Politik mit ihren für den Gesundheitsbereich Verantwortlichen aufzubauen. Die leidenden Menschen werden schlicht instrumentalisiert.

Ob der hohe Preis für das Präparat gerechtfertigt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Pharmaunternehmen lassen sich generell nicht dabei in die Karten schauen, wie ihre Preise zustande kommen. Es ist also durchaus denkbar, dass da nicht 100 Mal 2,1 Millionen Dollar, sondern nur 100 Mal 200 Dollar verschenkt werden. Das kann niemand nachprüfen.

Ähnlich sieht es auch bei der Einschätzung der Wirksamkeit des Medikaments aus: Novartis behauptet zwar, die Wirkung würde lebenslänglich anhalten, erwiesen ist das aber bei Weitem nicht. Das Produkt wurde an gerade mal 36 Patienten in den USA getestet. Der "primäre Wirksamkeitsnachweis" entstand nach Angaben der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA auf der Basis von sogar nur 21 Patienten. Im FDA-Bericht ist allerdings auch von einem Risiko, eine schwere Leberschädigung zu erleiden, die Rede.

Auch Medizinethiker sehen die Aktion, die bei Licht betrachtet vor allem Marketing ist, skeptisch. Der Medizinethiker Prof. Norbert W. Paul hält eine Vergabe anhand eindeutiger Kriterien wie z. B. die Möglichkeit alternativer Therapien oder die medizinischen Rahmenbedingungen für den ethischeren Weg. Novartis spricht hingegen davon, diese Lösung gemeinsam mit einem Ethikrat entwickelt zu haben. Wer zu diesem Ethikrat gehört, ist nicht veröffentlicht worden. Wussten die Mitglieder, dass es in Deutschland 5.000 und weltweit 375.000 SMA-Patienten gibt? Wenn ja, sollten sie das "Ethik" aus dem Wort "Ethikrat" streichen.

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