Leider nötig: Weihnachtshilfe

[WERBUNG, unbezahlt & unverlangt, ohne Kenntnis des Beworbenen]

Ich hatte mir vorgenommen, diesen Blog nicht zu einer Plattform für Behinderten-Themen werden zu lassen. Ganz einfach deshalb, weil der Umstand, selbst dazuzugehören, zwar selbstverständlich mein Leben stark beeinflusst hat und es immer tun wird; mein Alltag besteht aber auch noch aus vielen anderen Dingen, die hier ebenfalls angesprochen werden sollen.

Aber heute ist es dennoch wieder mal soweit. Schon wieder "was mit Behinderung". Wen das so gar nicht interessiert, dem kann ich an dieser Stelle sagen: Klick lieber weg. Belaste dich nicht mit Themen, die andere belasten. Das Leben ist schwer genug. Zünde drei Kerzen an, plane das Weihnachtsessen und freu dich, dass Rollstuhl, Prothese, Trisomie 21 & Co. an dir vorübergegangen sind. Besser wird dieser Text nämlich nicht.

So ähnlich machen das auch Krankenkassen. Blöd nur, dass jetzt diejenigen, die nicht weitergelesen haben, nie erfahren, dass sie sich mit ihrem 'wenn-ich-mir-die-Augen-zuhalte-ist-der-ganze-Mist-auch-nicht-da'-Verhalten mit ihnen in bester Gesellschaft befinden. Wenn hier von einer besten Gesellschaft überhaupt die Rede sein kann. 

Ohne Weihnachtshilfe ans Haus gekettet

Ich habe an meiner örtlichen Tageszeitung eine
ganze Menge auszusetzen und ärgere mich auch immer wieder über sie. Was sie aber richtig gut hinkriegt, ist die seit 1975 durchgeführte jährliche Weihnachtshilfe. Das dort gespendete Geld geht ohne Abzüge an Menschen in Not. Seit etlichen Jahren kommen bis kurz vor Weihnachten über eine Million Euro zusammen. Die Verwaltungskosten teilen sich der Zeitungsverlag, die Stadt Hannover und die Region Hannover. In der Adventszeit stellt die Zeitung in anonymisierten Artikeln Menschen vor, die von der Weihnachtshilfe profitieren sollen.

Heute ging es um einen 60-jährigen Rollstuhlfahrer. Nach zehn Jahren Benutzung hat sich die Technik seines E-Rollis verabschiedet, es musste ein neues Modell her. Wenn eine Waschmaschine, ein Fernseher oder ein Toaster zehn Jahre durchhalten, ziehen sie heutzutage fast schon in die Hall of Fame der Technik ein. Niemand käme auf die Idee zu sagen: "Also mal ehrlich, zehn Jahre... Dann ist doch gerade mal Halbzeit!" Bei einem Rollstuhl muss offenbar die Jahreszahl des Herstelldatums mit einer 18 beginnen, damit ein Krankenkassen-Entscheider bedächtig das Haupt neigt und mit einem genuschelten "Na gut" seinen Haken unter den Antrag macht.

Die Krankenkasse dieses Mannes verfolgte aber diesen Gedanken. Auch den Wunsch des Antragstellers, seinen fahrbaren Untersatz mithilfe eines Trackballs selbst steuern zu können, fanden die 'Experten' dort überzogen. Mit seiner Behinderung sei er doch mit dem Steuern seines Rollis ohnehin überfordert. Da war dessen Ansinnen, diesen mit einem Hublift auszustatten, um möglichst selbstständig leben zu können, erst recht weit jenseits von Gut und Böse. 

Hat da niemand mitbekommen, dass dieser Rollstuhlfahrer sehr wohl in den letzten zehn Jahren in der Lage war, selbstständig durch die Gegend zu cruisen?

An dieser Stelle kommt dieses 'wenn-ich-mir-die-Augen-zuhalte'-Gedöns seitens der Krankenkasse zum Einsatz. Man traf sich vor Gericht wieder. Der Behinderte gewann in der ersten Instanz. Im Zuge der Berufung wurde ein Vergleich geschlossen: Der Antragsteller musste 750 Euro zu seinem neuen Rollstuhl beisteuern.

Wow, das war wirklich ein Glanzstück der Krankenkasse! Könnte sich mal jemand dort die Mühe machen auszurechnen, wie viele Kosten bis dahin für den Fall aufgewendet werden mussten? Da waren ein oder zwei Bearbeiter am Werk, ihr Vorgesetzter, ein oder zwei Juristen... Um an jemandem zu sparen, der monatlich weniger als 500 Euro Grundsicherung bekommt. Applaus und Konfetti! 
 

Das kenne ich doch

Der 60-Jährige ist nur wenige Jahre älter als ich. Er ist ausschließlich Körperbehindert und hat keine geistigen Einschränkungen. Für diesen Zeitungsartikel hat er bereitwillig aus seinem Leben erzählt. Er habe sich sein Leben lang durchkämpfen müssen. Eine Sozialarbeiterin hatte ihn sogar mal gefragt, ob "einer wie er" überhaupt lesen könne.

Das kam mir sehr bekannt vor. Menschen mit einer sichtbaren körperlichen Behinderung wurde früher von sehr vielen Leuten abgesprochen, geistig voll auf der Höhe zu sein. Ich habe selbst als Jugendliche erlebt, von anderen Menschen angepöbelt zu werden. Auch unverhohlenes Anstarren, gern gepaart mit einem geringschätzigen Gesichtsausdruck, waren eher die Regel als die Ausnahme. 
Als ich einmal wegen einer akuten Erkrankung in einer Klinik war, sprach der Pfleger mit mir so, als könnte ich nicht bis zwei zählen. Ich weiß noch, wie ich damals auf meine Beine zeigte und sagte: "Ich habe dort ein Problem und nicht in meinem Kopf." 

Nicht zuletzt war dieses Verhalten meiner Mitmenschen mein Ansporn, einen möglichst hochwertigen Schulabschluss zu schaffen. Aber es war immer alles zäh. Sehr passend war ein Hinweis des Redakteurs auf diese Zeit: "Der Gedanke der Inklusion spielte damals noch keine Rolle. Behinderte wurden versorgt - doch ihnen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, galt als abwegig."* Dem ist nichts hinzuzufügen.

Schwein gehabt

Trotz aller Schwierigkeiten, die jede Behinderung mit sich bringt, habe ich in etlichen Dingen Glück gehabt.
In den Zeiten meiner Kindheit und Jugend, in denen fast jeder Mensch mit Einschränkungen beglotzt wurde wie Mork vom Ork, hatte ich Eltern, die sich unermüdlich für mich einsetzten. Ich hatte damals auch großes Glück mit den Erzieherinnen im (normalen) Kindergarten, den Lehrerinnen und Lehrern in meinen (normalen) Schulen und schließlich auch mit einem Freundeskreis, der alles relativ entspannt nahm und mich bei Bedarf im täglichen Leben unterstützt hat. 

Ihnen allen bin ich wirklich dankbar.


*Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 14./15.12.2019, Seite 19

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