Das Hotel als Bühne


Es gibt kaum einen Ort, an dem so viele unterschiedliche Menschen zusammenkommen wie in einem Hotel. Genauer: einem Ferienhotel. Ja, auch auf Bahnhöfen und Flughäfen tummeln sich die verschiedensten Leute, aber dort haben sie keine Zeit und/oder schlechte Laune. In so einem Urlaubshotel aber kann man die Seele baumeln lassen.

Sollte man zumindest meinen. Sieht man sich aber die Gesichter während der Mahlzeiten an, dann wirken drei Viertel von ihnen schlecht gelaunt und unzufrieden. Und das gilt auch, wenn es sich um richtig gute Hotels in einer sehr guten Lage und mit tollem Essen handelt. Das scheint keine spezifisch deutsche Eigenheit zu sein, denn ich habe das auch dort beobachtet, wo Touristen aus aller Herren Länder zusammenkamen. Die angeblich schönsten Wochen des Jahres werden muffelnd verbracht.

Von muffelnd geht es zu müffelnd. Kürzlich haben wir in einer Hotelhalle gesessen. Ein junger Musiker spielte bekannte Lieder auf dem Saxophon, die ersten Hotelgäste hatten sich die Bäuche beim Abendbüfett vollgeschlagen und saßen nun in der Bar, einen Kaffee oder etwas Alkoholisches vor sich. Ein Mann, Typ "rüstiger Rentner", näherte sich. Sein Blick ging zur geöffneten Tür des Hotelrestaurants. Nach kurzem Überlegen ging er auf eine Sitzgruppe in der Halle zu. Er nahm auf einem Sofa Platz und beugte sich nach unten. Jetzt hatte der Mann unsere Aufmerksamkeit. Etwas umständlich zog er sich seine Sportschuhe aus. Ein kurzer Moment des Zögerns. Dann zog er sich auch die Socken von den Füßen. Er hielt kurz inne und überlegte. Wir ließen ihn jetzt nicht mehr aus den Augen. Dann, mit einer ruckartigen Bewegung, hielt er sich seine Socken einzeln vor die Nase, eine nach der anderen. Das Ergebnis des Schnellchecks: ein kurzes missbilligendes Kopfschütteln, bevor das Sockenpaar in die Hosentasche gestopft wurde. Der Mann schlüpfte mit seinen Füßen in die Schuhe und ging dann geradewegs zum Abendessen. Wir stellten uns vor, wie er mit seinen Fingern die Güte der Äpfel und Pflaumen prüfen würde, die in großen Haufen auf einem der Büfetts lagen. Kann man durchs Kopfkino schlank werden? Ich glaube, das geht.

Kurz vorher waren wir selbst beim Abendessen gewesen. Zum Schluss musste noch ein Nachtisch her. Auf drei Beinen ist es etwas schwieriger, um
Menschen herumzuzirkeln, deren komplette Wahrnehmung auf die Nahrungsaufnahme ausgerichtet ist. Ich weiß das und hielt von Leuten Abstand, die ganz offensichtlich mit der Wahl des Desserts so vollkommen beansprucht waren, dass sie mich auf ihrer "Jagd" über den Haufen laufen würden.

Und dann gibt es noch die, die auch beim Anblick von Mandelkuchen und Pana Cotta ihre seltsamen Machtspielchen spielen müssen. Hier war es ein etwa zehn Jahre älterer Mann. Wir trafen uns vor dem Schoko-Feigen-Kuchen. Er musterte mich wenige Sekunden. Das Problem: Wir steuerten aus entgegengesetzten Richtungen kommend denselben Nachtisch an. Die Frage war: Wer weicht dem anderen aus? Wie schon erwähnt, ist das Ausweichen mit drei Beinen einen Tick schwieriger als mit zweien. Darum bin ich in solchen Situationen ein bisschen bockig.

Er sah mir in die Augen. Sein Blick sagte: 'Ich bleibe, wo ich bin. Geh du mal schön um mich herum.' Was mein Blick ihm sagte, kann ich nur erahnen, denn ich sehe mich ja nicht. Aber er schien ein begnadeter Gedankenleser zu sein: Augenblicke später hatte er einen Bogen um mich herum geschlagen. Stur sein kann ich. Aber jetzt gibt es womöglich einen Menschen mehr, der mich nicht leiden kann. Tja.

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