Schwerpunkte: Welche Informationen sind wie wichtig?

Ich stehe meiner Tageszeitung ziemlich kritisch
gegenüber. Immer wieder werden Überschriften missverständlich formuliert oder Sachverhalte nur unvollständig ausgeführt. Trotzdem habe ich sie schon seit mehr als zwanzig Jahren abonniert, und auch bei meinen Eltern lag sie jeden Morgen im Briefkasten. Eine Mischung aus Gewohnheit und dem Wunsch, auch über Dinge aus meiner näheren Umgebung informiert zu sein, hält mich wohl davon ab, mein Abo zu kündigen.

Gestern früh war es wieder soweit, dass der Gedanke, mich von dem Blatt zu verabschieden, in greifbare Nähe rückte. Auf der letzten Seite des Hauptteils befindet sich die Rubrik "Welt im Spiegel". Das ist so etwas wie ein journalistischer Gemischtwarenladen. Dort guckte man nun auf zwei Gesichter: das des wegen Kindesmissbrauchs angeklagten US-Unternehmers Jeffrey Epstein, der sich in seiner Gefängniszelle umgebracht hat, und daneben das von Prinz Andrew. Der Prinz ist einer der Söhne der britischen Königin Elizabeth II. und soll buchstäblich auch seine Finger im Spiel gehabt haben. Das ist eine widerwärtige Angelegenheit, die unserer Tageszeitung 561 Wörter wert war. Einschließlich der beiden Fotos nahm der Artikel knapp die Hälfte der Zeitungsseite ein.

Auf derselben Seite befindet sich die Rubrik "In Kürze". Dort sind am Rand immer Kurzmeldungen, deren Unscheinbarkeit dazu verleitet, sie zu übersehen. Der eine Text behandelte den Taifun "Lekima", der in China gewütet und 32 Todesopfer gefordert hat. 16 Menschen werden immer noch vermisst. Diese Information wurde in 71 Wörtern gegeben.
Drei Wörter mehr wurden dem Monsun in Indien zugestanden, von dem acht Millionen Menschen betroffen sind und bei dem über 150 Menschen ihr Leben verloren.

Es steht außer Zweifel, dass alle drei Meldungen wichtig sind und der Welt mitgeteilt werden sollten. Es geht mir auch nicht um Erbsenzählerei, wenn ich auf den Textumfang hinweise. Aber diese fast schon groteske Gewichtung zugunsten des US-Kinderschänders Epstein hat mich schockiert. Ich gebe zu, dass er mir trotz seines Reichtums vor der Anklage gegen ihn nicht wirklich ein Begriff war. Ein Investment-Banker. Niemand, der etwas geleistet hat, was - außer ihm selbst - jemandem zugute kam. Sein Suizid und dass eventuell weitere Promis in die Missbräuche verwickelt sein könnten, hebt die Story offenbar auf eine Ebene, die zum Wieder-und-wieder-Erzählen einlädt.

Klar, dagegen können acht Millionen Menschen, denen in Indien das Wasser bildlich gesprochen bis zum Hals steht, nicht anstinken. Die müssen sich dann nun mal mit einem Siebtel der Aufmerksamkeit zufrieden geben. Das wiederholt sich ja sowieso regelmäßig. Da reichen ein kurzer Blick und einige dürre Worte. Diese Menschen haben aus unserer Perspektive kein Gesicht, sondern erscheinen in unserer Vorstellung als kaum zu fassende Menge von Köpfen.

8 Millionen: Das ist beinahe die Zahl der Einwohner Niedersachsens im Jahr 2018, dem nach Bayern hinsichtlich seiner Fläche zweitgrößtem Bundesland. Manchmal ist es ganz sinnvoll, Vergleichszahlen heranzuziehen, um die Dimension eines Ereignisses zu erfassen.

Kindesmissbrauch ist übrigens auch etwas, das sich ständig wiederholt. Auch in Deutschland: 2018 wurden der Polizei mehr als 14.000 Fälle von Kindesmissbrauch gemeldet. Experten setzen die Dunkelziffer 15- bis 20-mal so hoch an. Darüber berichtet wird darüber nur wenig. Es ist ja auch kein Promi darunter.

Wem die eine oder andere Passage in diesem Beitrag zu ironisch vorkommt: Das soll so sein.

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