Verlust ohne Abschied

Ich habe heute zufällig einen Beitrag einer Frau im sozialen Netzwerk mit dem blauen F gelesen. Sie ist dort einer meiner Kontakte; das blaue F bezeichnet das gern als "Freund", klingt heimeliger und irgendwie netter, verschleiert aber das, was es wirklich ist. Aber das nur am Rande.

Diese Frau ist ungefähr in meinem Alter. Kürzlich ist
eine gute Freundin von ihr verstorben, der sie sehr verbunden war. Sie hatte sich gewundert, dass diese Freundin ihr nicht wie sonst auf eine E-Mail geantwortet hatte. Vor wenigen Wochen war die Freundin noch wohlauf, kurz danach war sie nicht mehr erreichbar. Seltsam daran war, dass niemand aus ihrem Umfeld darüber Auskunft geben wollte, was zu ihrem Tod geführt hatte.

Ich habe so etwas Ähnliches bereits innerhalb meiner Familie erlebt. Meine Mutter hatte eine Freundin, mit der sie fast 90 Jahre verbunden war. Es gab Phasen, in denen sie einen intensiven Kontakt hatten, aber auch solche, in denen sie sich nur ab und zu sahen oder miteinander telefonierten. Fast 90 Jahre. Eine Zeitspanne, die sich die meisten von uns nicht vorstellen können.

Meine Mutter hat mit dieser Freundin, als beide im Rentenalter waren, Reisen unternommen und sich regelmäßig mit ihr zum Kaffeetrinken getroffen.
Dann ging es dieser Freundin gesundheitlich schlechter. Ein Neffe organisierte den Umzug in ein Pflegeheim - 150 Kilometer von ihrem früheren Wohnort entfernt, in der Nähe dieses Verwandten. Zu weit für alle, mit denen sie vor ihrem Umzug im Alltag Kontakt hatte: alte Menschen, wie sie selbst einer gewesen ist.

Meine Mutter hat den Kontakt zu ihrer Freundin per Telefon aufrecht gehalten. Ein paar Mal wurde sie auch dorthin gefahren. Aber nach zwei oder drei Jahren gab es diesen einen Tag, an dem sie die Freundin anrufen wollte, aber von morgens bis abends niemand den Hörer abnahm. Auch am nächsten Tag nicht.

Ein paar Tage später klingelte bei meiner Mutter das Telefon. Der Neffe ihrer Freundin informierte sie kurz und knapp darüber, dass die alte Dame gestorben sei. Meine Mutter fragte ihn, wo und wann die Beisetzung stattfinden würde. Sie wollte sich gern von ihrer Freundin verabschieden. Doch der Mann beendete abrupt das Gespräch. Meine Mutter hat bis zu ihrem Tod nicht erfahren, wo ihre Freundin beerdigt wurde und was zu ihrem Tod geführt hatte. Sie hat dieses Nichtwissen immer wieder bedauert und es nicht geschafft, mit dem Verlust ihrer Freundin abzuschließen. Ich konnte das gut verstehen.

Mir ist ein Rätsel geblieben, wie man sich so verhalten kann, wie es dieser Verwandte getan hat. Seine Reaktion auf die Nachfrage meiner Mutter zeugte von Gleichgültigkeit und Kälte. Es blieb nicht aus, dass wir darüber nachdachten, aus welchen Gründen er so reagiert hatte. Alles, was uns einfiel, war unerfreulich.

Später bin ich einer Nichte der verstorbenen Freundin begegnet. Ausgerechnet auf einer Beerdigung. Wir hatten uns seit unserer Kinderzeit nicht mehr gesehen, fanden aber sofort einen guten Draht zueinander. Sie erzählte mir, dass sie nach dem Tod ihrer Tante auf dieselbe Art wie meine Mutter am Telefon abserviert worden war. Auch sie rätselte, was dahinterstecken mochte und wusste ebenfalls nicht, wo sie das Grab ihrer Tante finden konnte. Auch ihr war jede Information verweigert worden. Das Thema beschäftigte sie immer wieder und ließ sie auch Jahre später nicht los. Ihre Mutmaßungen gingen in eine ähnliche Richtung wie unsere, aber darüber nachzudenken, brachte niemanden von uns weiter.

Dieses Nichtwissen um die näheren Umstände des Todes eines Menschen, der einem wichtig war, und das Verhindern, sich von ihm verabschieden zu können ist in etwa so, als würde man eine gespannte Metallkette mit einem einizigen kräftigen Hieb zerschlagen. Es bleiben zwei Enden übrig, die sich im Nichts verlieren. Das ist bis heute meine Assoziation, wenn ich an diese Geschichte zurückdenke.

 

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