"Das wird man doch noch sagen dürfen!"

Ich glaube, das hat so gut wie jeder, der sich in den sozialen Netzwerken tummelt oder die Leserbriefe in der Tageszeitung verfolgt, schon mal gelesen: "Das wird man doch noch sagen dürfen!"

Dieser so oder ähnlich geäußerte Ausspruch kommt von Leuten, die ahnen oder wissen, dass ihre Meinung zu welchem Thema auch immer bei vielen Menschen keine Begeisterungsstürme auslöst. Er fällt auch, wenn schon eine Diskussion im Gange ist und sich erste Gegenstimmen zu Wort gemeldet haben.

Dahinter steckt im Kern der Hinweis auf die Meinungsfreiheit. Sie ist ein Grundrecht, das auf das Grundgesetz, nämlich Artikel 5 Absatz 1 Satz 1, zurückgeht: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten."

Grundrechte sind Rechte, die jeder Einzelne unabhängig von seiner Nationalität, Religion, Hautfarbe oder sonstigen Merkmalen gegenüber dem Staat hat. Sie haben dort ihre Grenzen, wo sie die Rechte anderer berühren oder z. B. die öffentliche Sicherheit gefährden würden. Aufrufe à la "Weg mit den Politikern, lasst uns den Reichstag stürmen" würden nicht mehr unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen. 

Ich schicke diesen ganzen Sermon voraus, weil der Meinungsfreiheit immer häufiger eine andere Bedeutung zugeschrieben wird: Da äußert jemand seine Ansicht, erhält Widerspruch und beginnt sofort zu krakeelen "Das wird man doch noch sagen dürfen! Oder haben wir keine Meinungsfreiheit mehr?" Oft wird auf diesen Zwischenschritt, der immerhin noch einen klitzekleinen Zweifel nahelegt, auch gleich ganz verzichtet und - gern pöbelnd - sofort losposaunt: "In diesem Land ist die Meinungsfreiheit komplett den Bach runtergegangen!"

Ich weiß nicht, wie oft ich das schon gelesen habe. Jedes Mal wird solch ein Satz im Brustton der Überzeugung vorgetragen. Aber Meinungsfreiheit heißt nun mal nicht, dass man zwar seine Ansicht lautstark verkünden, aber dass niemand widersprechen darf. Im Gegenteil. Meinungsfreiheit bedeutet, dass man zum Beispiel sogar sagen darf, dass die Inhaber unserer höchsten Staatsämter von Tuten und Blasen keine Ahnung haben und am besten sofort ihre Stühle räumen sollten, ohne dass anschließend die Polizei mehr oder minder freundlich an die Wohnungstür klopft und man auf unbestimmte Zeit in irgendeinem Gefängnis versauert. So, wie es beispielsweise aktuell in der Türkei, in Russland oder in manchem anderen Land gemacht wird.

Wenn ich meinem Arbeitgeber gegenüber behaupte, dass sein Betrieb das letzte Dreckloch ist und seine Löhne ein schlechter Witz sind, muss ich damit rechnen, in diesem Unternehmen keine steile Karriere mehr machen zu können. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich wenig später die Wege trennen, ist nicht so klein. Das hat aber nichts mit der Beschneidung der Meinungsfreiheit zu tun, sondern damit, dass der Chef keinen Wert auf eine Störung des Betriebsfriedens legt. Bestraft werde ich dafür aber nicht.

Es wäre prima, wenn diejenigen, die das angebliche Ende der Meinungsfreiheit öffentlich beweinen, ihren Diskussionspartnern mit Argumenten begegnen würden, anstatt sich im Selbstmitleid zu verlieren, weil sie Gegenwind spüren. Das ist anstrengender, wäre aber ein großer Gewinn für die Diskussionskultur und damit auch für die Demokratie. Und weniger ermüdend.

Kommentare

  1. Besonders oft höre ich das von Leuten rechten Geistes, die in Talkshows sitzen und lauthals schreien, dass sie ihre Meinung nicht sagen dürfen. Ich denke da nur an Akif Pirinçci.

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    1. So ist es! Und im nächsten Augenblick tun sie genau das: ihre Meinung sagen...

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