Wie wär's mit einer Probefahrt im Rollstuhl?

Der NDR hatte kürzlich eine (Vorsicht: Ironie!) absolut neue und
originelle Idee: Die Reporterin Judith Wolters besuchte eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau, die seit 20 Jahren im Rollstuhl sitzt. Die etwas mehr als 6-minütige Sendung stammt aus der Reihe "Ein Tag...", und in dieser Folge ging es um einen Tag im Rollstuhl. Ein Tag hieß aber nicht, dass sich Frau Wolters 24 Stunden mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte. Nach acht Stunden, in denen sie mit der tatsächlich auf den Rolli angewiesenen behinderten Frau durch eine Innenstadt gekurvt ist, war sie froh, wieder aufstehen zu dürfen.

Der NDR ist damit nicht allein. Seit einiger Zeit wird dieses sogenannte Experiment von etlichen TV-Sendern durchgeführt. "Ein Tag im Rollstuhl"-Videos werden immer mal wieder gedreht. Ich frage mich, welche Absicht überwiegt: Sich selbst als Behindertenversteher darzustellen oder sich in die Situation Betroffener hineinzuversetzen?
Die erste Variante wird keiner bejahen. Schlecht fürs Karma. Und die zweite? Was diese Videos gemeinsam haben, sind das gute Wetter und ein passabler Untergrund. Sie zeigen nicht, dass Rollifahrer z. B. bei Schnee noch mehr mit Unebenheiten zu kämpfen haben und sich freuen, wenn kein Salz, sondern Splitt gestreut wird. Salz greift die Hände an, Splitt macht den Untergrund griffiger. Schneematsch ist übel, aber auch grobes Kopfsteinpflaster, wie es oft in Altstädten zu finden ist. 
In großen Menschenmengen muss auf brennende Zigaretten geachtet werden, die zwischen zwei Zügen nach unten gehalten werden, immer auf der Höhe der Köpfe von Rollifahrern.
Oder: Wie groß ist der Frust, wenn das Auto eines Rollifahrers so sehr eingeparkt wird, dass er nicht mehr ein- oder aussteigen und/oder seinen Rollstuhl ins Auto laden kann? Ob das durch technische Vorrichtungen passiert oder jemand dabei hilft, es braucht auf jeden Fall Platz um das Auto herum.
Und schließlich: Wie erfolgreich ist die Jobsuche für Rollstuhlfahrer? 
Ein paar dieser Dinge bremsen schon meinen dreibeinigen Alltag ab oder manchmal auch ganz aus. Was genau, weiß ich selbst am besten und diejenigen Menschen, die mich mehr oder weniger oft in meinem Leben begleiten, am zweitbesten. 

Am Ende eines solchen "Experiments" steht immer, dass das Rollstuhlfahren nur gespielt wurde. Der Tester weiß von Beginn an, dass die Beschwernisse von ihm nur kurz ausgehalten werden müssen. Der Alltagsfrust, wenn wieder etwas, das für andere banal ist, nicht klappt oder man zu spät zu einem Termin kommt, weil beispielsweise der Aufzug in der U-Bahn-Station wieder mal ausgefallen ist, bleibt bei diesen Videos außen vor. Die Bewertungen der Reporter reichen von "Toll, dass du trotz deiner Behinderung noch [setze hier etwas Beliebiges ein wie z. B. Sport oder Chorsingen] machst" bis zu der Erkenntnis, dass so ein Leben im Rollstuhl ganz schön schwer ist. Zum gegenseitigen Verständnis tragen diese Sendungen sicher nicht bei. Nicht nur ich stelle mir die Frage, warum es nicht möglich war, Rollstuhlfahrer mit einer versteckten Kamera auszustatten und ihr Leben länger als nur ein paar Stunden zu begleiten.

Die Bloggerin Julia Probst, die gehörlos, aber nicht Rollstuhlfahrerin ist, hat den NDR per Twitter gefragt, warum dieses Experiment auf diese Weise initiiert wurde. Die Antwort, die nach Aussage des NDR von Judith Wolters stammt: "Hallo, die Kritik ist uns, also den Autoren, bekannt und bewusst gewesen. Doch wir haben von Menschen mit Behinderung, die selber im Rollstuhl sitzen, Unterstützung für den Film bekommen." Es reicht demnach, eine Handvoll Menschen im Rollstuhl zu finden, um die Meinung der anderen zu ignorieren. Na denn.
itter.com/EinAugenschmaus/status/1134367407894618112

Kommentare

  1. Ich hätte nicht gedacht, dass selbst der NDR sowas Lächerliches sendet.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Und nicht nur der NDR. Gib einfach mal "ein Tag im Rollstuhl" bei Google ein, und dir werden haufenweise Fundstellen angezeigt. Manche führen das mit einer gewissen Ernsthaftigkeit durch, andere als als Dauerspaßschleife. Finde ich alles ziemlich befremdlich.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Und hier ist Platz für deinen Kommentar: