Familienzusammenführung zwischen Tür und Angel

Ich bin zufällig auf einen Artikel in einer Zeitschrift
Quelle: https://guardian.ng, 20.11.2016
gestoßen, in dem es um den Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko geht. Der Artikel ist vor etwas mehr als zwei Jahren erschienen und beschäftigt sich mit einer Tür in diesem sechs Meter hohen Zaun, die sich bei Tijuana in Richtung San Diego befindet. Ein bis zwei Mal pro Jahr dürfen sich hier sechs mexikanische Familien treffen, die getrennt voneinander links und rechts des Grenzzauns leben und denen jeweils drei Minuten gegeben werden, um sich zu umarmen und miteinander zu sprechen. In der Regel sind das die ersten Begegnungen der nahen Verwandten seit vielen Jahren. Die Familien treten in der Reihenfolge nach vorn, in der sie aufgerufen werden. Ein Kontakt wie am Fließband. Einschließlich der nötigen Zeit für das Öffnen und Schließen steht die Tür 20 Minuten offen. Die Teilnahme muss beantragt werden und wird von amerikanischen Grenzpolizisten überwacht. Die Verwandten, die sich dann gegenüberstehen, dürfen auf keinen Fall die Grenzlinie übertreten. Ob sie sich nach diesen Treffen je wiedersehen werden, steht in den Sternen.

Im Januar 2018 gab der US-Grenzschutz bekannt, dass es die Familientreffen bis auf Weiteres nicht mehr geben wird. Jetzt kann man sich nur noch im sogenannten 'Friendship Park' sehen, getrennt durch den Zaun.

Ähnliches kennt man auch aus Korea. 2015 gab es  für einige Familien 62 Jahre nach dem Ende des Koreakrieges und der Aufteilung des Landes in einen Nord- und einen Südstaat das erste Wiedersehen. Mehrere zehntausend Familien wurden während des Krieges voneinander getrennt. Die 100 Menschen, die aus Südkorea daran teilnehmen durften, wurden ausgelost. In Nordkorea spielte bei der Auswahl die Loyalität zur Regierung die entscheidende Rolle. Drei Jahre später gab es ein weiteres Treffen nach denselben Regeln. Jedes der Treffen dauerte elf Stunden, die auf drei Tage verteilt waren. Mit Ausnahme von drei Stunden, die die Familien unter sich sein durften, wurde die Veranstaltung streng bewacht. Da standen dann sehr alte Eltern ihren Kindern gegenüber, die nun auch schon alte Leute waren. Während der ganzen Zeit der Trennung hatte es keinen Kontakt zwischen den nahen Verwandten gegeben. Bis zum Moment der Abreise aus den Heimatorten hatten viele Eltern nicht gewusst, ob ihre Kinder noch am Leben sind.

Ich finde beide Arten, seine Angehörigen wiederzusehen, grausam. Aber ich frage mich, was grausamer ist: diese kurzen, beaufsichtigten Wiedersehen, in denen das, wozu viel Zeit nötig wäre, auf eine vorgegebene Minutenzahl gestaucht wird und niemand weiß, ob man einander ein zweites Mal begegnen wird; oder die Beibehaltung des Zustands der Trennung ohne solche Treffen, auf die unweigerlich ein nicht zu ermessender Trennungsschmerz folgt. Wahrscheinlich ist man einem ersten Impuls folgend dazu verführt zu sagen: "Ein bisschen ist doch besser als gar nichts!" Aber solch ein Wiedersehen reißt die Wunden, die vermutlich zwar vorhanden waren, aber zu einer Art Grundrauschen des Lebens gehörten, brutal wieder auf. Ist die erneute Trennung nach so einem Treffen nicht eine weitere Traumatisierung?

Ich habe darauf keine Antwort und hoffe, so eine Situation nie erleben zu müssen. Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Aber es steht fest: Menschen sind zu mancher Grausamkeit imstande. Das ist leider keine Neuigkeit.

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