Immer mehr Vorschriften?

Wenn man sich die Nachrichten so anguckt, werden wir seit geraumer Zeit von Krisen geschüttelt. Jede Krise für sich bestimmt eine Weile die Meldungen und es gibt eine Reihe von klugen und weniger klugen Menschen, die Lösungen parat haben, um uns vom Unheil zu befreien. Bei Firmenkrisen beispielsweise kann jeder Idiot sofort sagen, wie man die schlingernde Situation eines Unternehmens wieder auf Vordermann bekommt: Es wird Personal reduziert, oft muss der Vorstandsvorsitzende seinen Stuhl räumen, was ihm mit einer Abfindung versüßt wird. Das ist längst eine gewohnte Übung und klappt reibungslos, ohne dass dafür irgendwelche Vorgaben gemacht werden müssten.

Aber es gibt ja leider nicht nur Firmenkrisen. Aktuell
gibt es zum Beispiel so etwas wie eine Impfkrise. In mehreren Gegenden Deutschlands hat es eine Häufung von Masernerkrankungen gegeben. Dass es überhaupt dazu kommen konnte, ist der Impfmüdigkeit (= nette Umschreibung dafür, dass man den A.... nicht hochkriegt, um zum Arzt zu gehen) oder verblendeten Ansichten von Impfgegnern zu verdanken. Beim Impfen gegen die mit dem harmlos klingen Wort "Kinderkrankheit" niedlich umschriebenen Infektionen gilt aber: Der Erfolg lebt vom Mitmachen. Die Pockenimpfung, an der ich als Kind auch noch teilgenommen habe, hat das eindrucksvoll bewiesen. Sie ging noch auf ein Gesetz des Deutschen Reichs aus dem Jahr 1874 zurück und war Pflicht.
Einige wenige Menschen reagieren sehr schwer (anaphylaktisch) auf eine Impfung. Ich habe gelesen, dass das bei 100.000 Impfungen 0,065 Mal vorkommt.*⁾ Das Risiko, sich anzustecken und im Zuge einer Erkrankung Komplikationen zu erleiden, ist also wesentlich größer als das Opfer eines Impfschadens zu werden. Wer das Thema in den Medien verfolgt, kann den Eindruck gewinnen, dass in Deutschland die Impfmüdigkeit um sich greift. Bei einer Impfquote von über 90 % bei Kindern und Jugendlichen gegen die bekannten Kinderkrankheiten kann davon aber keine Rede sein. Das Problem liegt darin, dass die Impfquote, die während der Schuleingangsuntersuchungen festgestellt wurde, bei der zweiten Masernimpfung schlechter ist als bei der ersten. Immer noch bei etwa 92 %, aber bis zu den 95 %, die sich Mediziner und Politiker für den deutschlandweiten sicheren Masernschutz wünschen, fehlen eben noch ungefähr drei Prozentpunkte.** Das war 2005 mit einer Quote von weniger als 80 % bedeutend schlechter. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Diskussionen um eine Impfpflicht für Masern vor 14 Jahren so hohe Wellen geschlagen hätten. Trotzdem wird heute für niemanden überhörbar darüber diskutiert, eine Impfpflicht einzuführen.

Kürzlich bin ich in einem sozialen Netzwerk über eine
© lichtkunst.73 / pixelio.de
ganz andere Situation gestolpert. Ein Biologe sammelt dort auf seiner Seite besonders gruselige Beispiele für Vorgärten, die aus nichts als Kies, Schotter, Pflaster und ach so dekorativen Figuren aller Art bestehen. Das, was da unzulässigerweise als Garten bezeichnet wird, wird selbstredend nach außen nicht von einer Hecke begrenzt, sondern von Metallzäunen oder Gabionen. Gabionen sind diese metallenen Drahtbehälter, die mit Steinen aufgefüllt werden. Die Botschaft von "My home is my castle" kommt bei diesen Dingern besonders wirkungsvoll rüber. Ich denke, es ist deutlich geworden, was ich von diesen Flächen, für die es einen neuen, eigenen Begriff geben sollte, halte: nix. 'Totflächen' gefällt mir dafür ganz gut, denn Leben findet dort allenfalls in Form von Mikroorganismen statt.

Dieser Trend, sich eine Totfläche vors Haus zu setzen, fällt in eine Zeit, in der überall über den Klimawandel, das Insektensterben oder ganz generell die Erhaltung der sich ungünstig entwickelnden Artenvielfalt diskutiert wird. Zu Recht, denn all diese Themen sollten uns beschäftigen. Sie sind ein Indikator dafür, wie sehr sich unser Leben und unser Umgang mit der Erde in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Oder genauer: verschlechtert. 
Und da kommt sie auch schon um die Ecke, die Forderung bezüglich der Totflächen: Die gehören verboten! Man ist spontan geneigt, dieser Forderung zuzustimmen: "Ja, weg mit dem Dreck!" Parolen sagen sich umso leichter, je eingänger sie sind. In einigen wenigen Städten wurden für Neubaugebiete bereits Verbote ausgesprochen.
Totflächen sind totaler Murks. Sie heizen sich im Sommer auf, sie sind lebensfeindlich und bewirken bei Starkregen wegen ihrer Versiegelung, dass das Regenwasser nicht ablaufen kann. Oder eher den Weg ins Haus findet. Aber ich finde diese Forderungen nach Verpflichtungen und Verboten aus zwei Gründen schwierig: 

  1. Mir behagt nicht, dass an immer mehr Stellen, an denen ein Problem ausgemacht wird, nach einem Verbot gerufen wird. Mit jedem Verbot wird unsere Freiheit beschnitten. Und ist ein Verbot erstmal da, ist es kaum noch aus der Welt zu schaffen. Es ist wie ein Geist, der aus der Flasche gelassen wird.
  2.  Wer sagt, dass Totflächen aus Gründen des Umwelt- und Klimaschutzes nicht in Ordnung sind, hat recht. Da gibt es gar kein Diskutieren. Aber es ist auch sonnenklar, dass diese Forderung von Menschen ausgesprochen wird, die einen lebendigen Garten oder einen Balkon haben. Die große Mehrheit dieser Menschen macht sich aber selbst an Umweltsünden schuldig: Da wird ein SUV gefahren (DER Verkaufsschlager der deutschen Automobilindustrie), die Urlaubsziele werden mit dem Flugzeug angesteuert (man will ja schließlich etwas sehen in seinem Leben) oder man schließt sich einem anderen Trend an, der beginnt, sogar das ewige Eis zu bedrohen: Der Kreuzfahrtboom kennt kein Halten mehr. Dass es bislang überhaupt nur ein einziges ausschließlich mit Gas betriebenes Kreuzfahrtschiff gibt, ist ein schlechter Witz. Weltweit werden in diesem Jahr 30 Millionen Passagiere ein Kreuzfahrtschiff besteigen; 2016 waren es noch 24,7 Millionen, davon etwas mehr als zwei Millionen aus Deutschland. Was für die Branche ein Riesengeschäft ist, ist für Umwelt und Klima ein Desaster. Bislang habe ich aber noch keine Forderungen gehört oder gelesen, in denen es um stärkere Restriktionen oder gar die Abschaffung des Kreuzfahrttourismus gegangen wäre. Sogar beim Autoverkehr richtet sich der kollektive Zorn bislang nur gegen Diesel-Pkw, nicht gegen Benziner und schon gar nicht gegen mit Diesel angetriebene Lastwagen. Warum nicht? Wieso setzt die sog. öffentliche Meinung bei einem Thema auf Einsicht, bei einem anderen aber auf Verbote?

Ich bin mir selbst nicht sicher, welchen dieser Gründe ich für die Ablehnung von immer mehr staatlichen Restriktionen wichtiger finde. Jesus' bekannter Ausspruch "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein" soll keine Aufforderung sein, sich nicht einzubringen, wenn man Missstände erkannt hat, aber doch die Kirche im Dorf zu lassen. Nicht nur, wenn es um Totflächen geht. Und sei es, um nicht daran mitzuwirken, dass unsere heutigen Rechte und Freiheiten weiter eingeengt werden.


*Quelle: Pädiatrische Allergologie, Ausgabe 2/2014, Seite 11 
** Quelle: Broschüre des Robert-Koch-Instituts Impfquoten bei den Schuleingangsuntersuchungen, 2016



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