Lebenslanges Lernen: so früh und so oft wie möglich?

Folgende Szene hat sich kürzlich abgespielt: Mein Mann und
ich waren in einem Hotel in Südeuropa. Ländliche Umgebung, blökende Schafe, zwitschernde Vögel, Orangen- und Olivenhaine, eine wirklich schöne Atmosphäre - la vida rural en españa. Direkt neben uns wohnte eine deutsche Familie mit zwei Töchtern. Die ältere war im Grundschul-, die andere im Kindergartenalter. Die Familie wirkte immer sehr hanseatisch-konservativ, bei uns würde man "gediegen" sagen, mit einem gedehnten "ie". Die beiden kleinen Mädchen waren adrett gekleidet und ordentlich frisiert. Ja, ihr könnt jetzt sagen: "Ina, du hast Vorurteile!" Aber in mehr als 50 Lebensjahren hat man schon ein paar Menschen kennengelernt, und ich möchte hier eher von Erfahrung als von Vorurteilen sprechen. 

Auf der Terrasse konnten diese Familie und wir einander zwar hören, aber nicht sehen. An einem der sonnigen Urlaubstage saß ich auf unserer Terrassenseite und bekam mit, dass sich auf der Nachbarterrasse die Eltern mit ihren Mädchen unterhielten. Doch nicht über irgendetwas, sondern es wurde eine Art Unterricht abgehalten. Das jüngere Mädchen wurde im Lesen der Uhr trainiert. Ich habe das erst verzögert begriffen, als die Mutter ihr Kind fragte: "Und welche Uhrzeit haben wir jetzt?", und ihreTochter antwortete: "halb vier!", was von den Eltern zustimmend kommentiert wurde. Ich sah kurz auf die Uhr. So früh sollte es sein? Nö. Es war schon halb sechs. Aber dann wurde nach immer neuen Uhrzeiten gefragt, die das Mädchen mal sicher, mal zögernd ablas. Danach kam das Tagesdatum dran und es wurde nachgehakt, welches Datum wir denn hätten, wenn die Schule wieder anfängt. Das ging eine ganze Weile so: Die Mutter stellte ihre Lernfragen, und eine ihrer Töchter antwortete. Für die jüngere Tochter gab es noch eine Lerneinheit zum Thema Farben als Frage-und-Antwort-Spiel. Als schließlich die Tochter irgendetwas als "Braun" identifizierte und ihre Mutter mit leicht erhobener Stimme "Mittelbraun" mit Betonung auf dem ersten Wortteil antwortete, habe ich unwillkürlich mit den Augen gerollt. Irgendwann kam die Erlösung oder wie es die Mutter ausdrückte: "So, jetzt noch eine Frage, und dann machen wir erstmal eine Pause." 

Sieht so das sogenannte Bildunsgbürgertum aus oder sind diese Eltern einfach nur ziemlich ehrgeizig?
Ich habe über meine eigene Kindheit nachgedacht. Mit mir wurde das Lesen der Uhr nicht eigens eingeübt. In unserer Küche hing eine Wanduhr, deren Zifferblatt groß genug war, um auf einen Blick die richtige Zeit zu erfassen. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter so etwas sagte wie: "Du bist um sieben Uhr wieder zu Hause. Weißt du, wo der kleine und der große Zeiger dann stehen müssen?" Ich habe das als Kind also ganz nebenbei gelernt, wie das Essen mit Messer und Gabel oder das Schuhebinden. Darum wurde kein Brimborium gemacht; Alltagsfertigkeiten waren ganz selbstverständlich Dinge, die, wie der Name schon sagt, in den Alltag eingebettet wurden. In keinem einzigen Urlaub wurde ich in irgendetwas "unterrichtet", obwohl ich in der Schule viele Fehlzeiten hatte.

Ich habe das auch mit meinen eigenen Kindern so gehandhabt. Auch ihre Ferien beinhalteten keinen Ersatzunterricht durch Mama. Ich weiß auch nicht, wozu das gut sein sollte. Allerdings habe ich als junge Mutter beobachtet, dass diese "Nur das Beste für mein Kind"-Denkweise in meiner Müttergeneration begann. In den 1990-er Jahren rannte sicher mindestens die Hälfte der Mütter mit ihren Säuglingen zum PEKiP. Kennt ihr das? Das Kürzel steht für "Prager Eltern-Kind-Programm", was damals ein schlechter Witz war, weil man die teilnehmenden Väter nicht mit der Lupe, sondern mit dem Mikroskop suchen musste. PEKIP ist eine frühkindliche Förderung, die schon in den ersten Lebenswochen die Sinne des Babys anregen und seine Bewegung fördern soll. Ich habe mir das gespart. Wozu ein wöchentlicher Termin, für den ich mein Kind durch die halbe Stadt (damals war das so) kutschieren muss, wenn ich mich in dieser Zeit ihm in Ruhe zuwenden kann? Auch anderen Frühförderungen, die im Laufe der folgenden Jahre angesagt waren, habe ich mich verweigert. Als meine Kinder alt genug waren, eigene Interessen zu entwickeln und sich selbst für ein Hobby entscheiden konnten, habe ich das unterstützt.

Und weil früher weder ich selbst noch danach meine Kinder früh gefördert wurden, wurde aus uns auch nichts. Ich erwarte den Protest meiner Kinder. 😉

Kommentare

  1. Ich lernte als Kind auch eher spielerisch die Uhr und andere Dinge des Alltags kennen. Mir wurde erklärt, dass der kleine Zeiger die Zeit 1, 2, 3, 4 usw anzeigt und der große Zeiger Viertel-, Halbe-, Dreiviertel- oder ganze Stunde. Den Rest habe ich durch Beobachten gelernt.
    Allerdings erinnere ich mich nicht mehr, wie ich den eigenen Kindern die Zeit vermittelt habe. Sie wussten immer, wann abends das Sandmännchen beginnt und haben wohl auch durch Beobachten gelernt.
    Niemand bei uns hat den Ehrgeiz, besonders klug zu sein und ich bin froh, keine solch oberlehrerhaften Eltern gehabt zu haben. Mein Vater hat mir schon als kleines Kind die Welt gezeigt. Ich auf seinem Arm und sein Zeigefinger in Richtung Blumen, Bäume, Vögel usw. Das fand ich ganz toll und hier wurde wohl der Grundstock für meine Liebe zur Natur gelegt. Wenn diese hanseatisch angehauchte Familie, die Du beschrieben hast, ihren Kinder etwas einpauken wollen ..., jeder wie er es für richtig findet. Schöner aber ist, wenn die Kinder selbst etwas entdecken dürfen. Neugier ist ein guter Lehrmeister, finde ich.
    Liebe Grüße von Ingrid, der Pfälzerin

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    1. Liebe Ingrid, ich fand dieses schulmeisternde Verhalten der Mutter ziemlich daneben. Aber wahrscheinlich liegt mein Unverständnis daran, dass ich nicht zur Upper Class gehöre. 😉
      Viele sonnige Grüße von der Niedersächsin, die sich aus dem warmen Süden verabschiedet hat und bald wieder in der kühlen und regnerischen Heimat ist.

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  2. Wie immer:
    Herzerfrischend ...
    Liebe Ina, mein Vater war Angler, Jäger und mir und meinen Geschwistern immer so mit seinem Interesse zugeneigt, dass wir täglich spielend lernen konnten.
    So haben es unsere Wunschtöchter später dann auch erlebt.
    Heute schmeißen sie mich aus der Küche raus:
    Papa, wir sagen Bescheid, wenn's Essen fertig ist....

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    1. So soll es sein, oder? Alles richtig gemacht, würde ich sagen.

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  3. Vielleicht war das das Ersatzprogramm, weil der Chinesisch-Lehrer nicht mit in den Urlaub fahren konnte? ;)

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