Überflüssige Hindernisse

Seit einigen Jahren nimmt der Begriff "Inklusion"
Rosa Wolken
stetig an Bedeutung zu. Menschen mit geistigen, körperlichen und/oder psychischen Einschränkungen sollen in gleichem Maße am Leben teilhaben können wie die, die fit und kerngesund im Leben stehen. Aus meiner Perspektive eines Menschen, für den die Inklusion gewissermaßen erfunden wurde, sage ich: Das ist Quatsch. Und ich finde es nicht in Ordnung, auf diese Wunschvorstellung immer wieder rosa Puder zu streuen, der die wahre Realität verschleiert. Wenn es zum Beispiel mein Lebenswunsch als Gehbehinderte mit einem dritten Bein wäre, endlich vom Gipfel des Mount Everest auf die Welt zu blicken, wozu nicht nur reichlich Fitness nötig ist, sondern
Mount Everest
auch bestimmte körperliche Einschränkungen nicht vorhanden sein dürfen, käme doch niemand auf die Idee zu sagen: "Ina, das kriegen wir hin. Warte ein paar Wochen, dann ist das Ding barrierefrei!" 


Mir fehlen: der Wille, etwas zu ändern, und Hirn. Ganz viel Hirn.

Ich empfinde die Diskussion um Inklusion erst recht als hohles Geschwätz, wenn öffentlich zugängliche Einrichtungen nicht willens oder in der Lage sind, ihre Räume oder Anlagen so zu gestalten, dass sie von jedem Menschen nicht nur betreten oder befahren, sondern auch entsprechend ihres Zwecks benutzt werden können. Ich will Euch an ein paar Beispielen, die aus meinem eigenen Erleben stammen, zeigen, was ich meine.

  • Schon im September 2015 hatte ich mich über ein hannöversches Kino geärgert, das für einen
    Die sog. Lounge: unerreichbar für mobilitätseingeschränkte Menschen*
    Millionenbetrag aufwendig saniert und aufgehübscht worden war, für mich aber ohne Begleitung nicht zugänglich ist. An der Situation hat sich bis heute nichts geändert. Ich erwarte aber, dass ich ein Gebäude grundsätzlich ohne eine Begleitung betreten kann, zumal ich noch nicht in einem Rollstuhl unterwegs bin - was die Problematik noch verschärfen würde.
  • An meinem Wohnort wurde vor Jahren ein zentraler Platz am Rathaus, an dem sich etliche Einzelhändler befinden und wo der Wochenmarkt abgehalten wird, komplett neu gestaltet. Die Rampe, die zu ihm führt, wurde aber so steil gebaut, dass Rollstuhlfahrer im Handbetrieb nur mit letzter Kraft oben ankommen. Auch bei der Stromversorgung für die Marktstände hat man geschlafen: Anstatt die Situation zu nutzen und die Leitungen unterirdisch zu verlegen, laufen an Markttagen die Stromkabel jetzt kreuz und quer über den Platz. Schlecht für Menschen mit Gehbehinderungen und Seheinschränkungen.
  • In einem sehr teuren Hotel hatte man bei dem als ausdrücklich als behindertengerecht deklarierten
    Zimmer zwar an eine sich automatisch öffnende und schließende Zimmertür gedacht, aber im Bad die Haken für den Föhn oder andere Utensilien auf einer Höhe von 1,80 Metern angebracht. Das Waschbecken war zwar unterfahrbar, aber das Regalbrett für das Zahnputzglas und Kosmetikartikel befand sich dort auf der verspiegelten Wand in einer Höhe von 1,20 Metern. Wer sich in seinem Rolli nicht weit aufrichten und vorrecken kann, hatte außerdem auch nach der WC-Benutzung ein Problem: Der in die Seitenstütze integrierte Schalter funktionierte nicht. Bei mir erlischt da jedes Verständnis. Das Geld, ein Luxushotel zu bauen war da, aber der Architekt hielt sich offenbar für ausreichend kompetent, dass er niemanden um Rat gefragt hat, der sich mit barrierefreiem Bauen auskennt. Beim Auschecken habe ich die Dame an der Rezeption auf diese Dinge hingewiesen, die mit wenig Geld behoben werden können; allerdings hatte nicht nur ich, sondern meine ganze Familie den Eindruck, dass ihre Aufregung nur aufgesetzt war und meine Hinweise folgenlos versanden werden.
  • Vor ein paar Wochen war ich im Rathaus einer Nachbarstadt auf der Suche nach der
    Stadtbücherei. Ich war zum ersten Mal in dem Gebäude und wusste, dass die Bücherei eine halbe Stunde später schließen würde. Die Zeit zu vertrödeln war also keine Option. Mitten im Eingangsbereich pendelte ein Schild mit der Aufschrift "Stadtbibliothek" unter der Decke. Die gesammelte Lebenserfahrung flüsterte mir zu: "Geh geradeaus!" Tja, die Lebenserfahrung erwies sich als lückenhaft: Ich landete direkt im benachbarten Einkaufszentrum, das durch eine simple Glastür mit dem Rathaus verbunden war. Kann man machen, ist aber ... ungewöhnlich. Also kehrt in Richtung der Tür, durch die ich gekommen war. Am seitlichen Treppenaufgang wies ein weiteres Schild darauf hin, dass sich die Stadtbibliothek in der ersten Etage befindet. Sollte sie nur für Menschen zugänglich sein, die die Stufen problemlos überwinden können? Kaum vorstellbar. Dann sah ich ein paar Meter weiter einen Fahrstuhl. Nach einigen Minuten öffnete sich die Kabinentür, ich stieg ein und stutzte: Der Schalter für die erste Etage konnte nur betätigt werden, wenn man dafür einen Schlüssel hatte. Aber hatte ich nicht einen zweiten Aufzug direkt neben diesem gesehen? Nichts wie rein. Und wieder raus: Auch hier ging nichts ohne den Schlüssel. Seitlich des zweiten Fahrstuhls fand ich dann ein kleines Hinweisschild: Behinderte und Menschen mit Kinderwagen sollten sich im Bürgerbüro melden. Das Bürgerbüro hatte ich beim Reinkommen schon gesehen, also nichts wie hin. Mit freundlichem Lächeln - so beginne ich die meisten Gespräche, muss aber nicht so bleiben - bat ich die Dame am vordersten Schreibtisch um Unterstützung. Ohne mir direkt zu antworten oder mich gar eines Blickes zu würdigen griff sie zum Telefon und beorderte eine Kollegin herbei. "Die Kollegin kommt", teilte sie mir knapp mit. "Wohin?", fragte ich sie. "Zum Fahrstuhl." Sie war von dem kurzen Kontakt mit mir sichtlich genervt. Nichts störte in diesem Rathaus wohl so sehr wie die Bürger, für die es da ist. "Zu welchem?" "Zum dritten." Dieser dritte Fahrstuhl war mir bislang gar nicht aufgefallen, er befand sich nämlich in einem Winkel des Flurs, den man nur einsehen konnte, wenn man an den ersten beiden Aufzügen vorbei- und um eine Ecke herumging. Als sich seine Türen öffneten, stieg eine
    junge Mitarbeiterin zu, die den "Zauberschlüssel" in der Hand hielt. "Ganz schön tricky hier, wenn man zu Ihnen möchte", bemerkte ich, woraufhin sie nickte. Sie war es dann auch, die mich auf dem Rückweg im Fahrstuhl wieder nach unten begleitete. Eine so unpraktische Regelung und miserable Ausschilderung habe ich bislang selten erlebt. Menschen mit Sehbehinderung wären hier gescheitert.

Das sind nur einige Beispiele dessen, was ich ständig erlebe. Alles ist unnötig, weil vermeidbar - ohne großen Aufwand, wenn nur ein bisschen nachgedacht und man diejenigen fragen würde, für die Barrierefreiheit da sein soll. Von Inklusion kann da gar keine Rede sein, noch nicht mal von Integration. 

*Quelle Foto: RTL Nord (http://www.rtlnord.de/nachrichten/edel-kino-oeffnet-pforten.html)

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