Tatsächlich?

Es geht heute, wie so oft auf diesem Blog, um etwas völlig Banales. Um ein Thema, das kein Mensch braucht. Trotzdem weiterlesen? Na gut.

Zuerst ist es mir bei meinen Kindern aufgefallen. Oft, wenn sie eine Aussage verbal unterstreichen wollten, setzten sie einen Satz oder Halbsatz nach, der "tatsächlich" enthielt. Ich habe das zunächst für eine zufällige Häufung gehalten, denn ich gehe davon aus, dass sie wissen, dass ich ihnen glaube, was sie erzählen. Doch es blieb nicht bei den beiden: Auch in meinem nächsten privaten Umfeld machte sich das Wort breit. Und plötzlich bemerkte ich, dass ich es selbst gesagt hatte: "Das ist tatsächlich so, dass...". Niemand hatte mir vorher irgendwie einen Hinweis gegeben, mich für eine notorische Lügnerin zu halten, und trotzdem war es mir rausgerutscht.

Als ich heute Morgen unsere Tageszeitung las, sprang mir schon auf Seite 3 eine Anzeige ins Auge, die mehr als ein Viertel der Fläche einnahm: "Tatsächlich fallen die Haare vermehrt im Herbst aus", stand da in nicht zu übersehenden großen Buchstaben. Im Text wurde das noch mal aufgegriffen: "Unsere Haare wachsen im Herbst tatsächlich weniger und fallen vermehrt aus." Der Text richtete sich an Frauen jenseits der 40; da ich ja hier keine Produktwerbung mache, nur soviel: Wenn man 7 mit sich selbst multipliziert, erhält man einen Teil des Markennamens. 
Zweimal "tatsächlich": Sollte es (tatsächlich) so sein, dass die gesamte Frauenwelt dieser leicht gehobenen Altersgruppe - mich lasse ich da mal außen vor - an sich selbst einen mysteriösen Haarschwund beobachtet haben sollte, der pünktlich zum Beginn des meteorologischen Herbstanfangs am 1. September eingesetzt hat? Der Logik folgend müsste das Phänomen am 30. November um 24 Uhr abrupt enden. Frauen in diesem Alter, die Ihr das hier lest: Könnt Ihr solch einen Verlust an Euch beobachten? 

Die "Tatsächlicheritis" gibt es auch dort, wo Sprachprofis am Werk sind. Ende September meldete der Deutschlandfunk: "Es ist tatsächlich die Machtfrage, die sich da stellt!" Es ging um die Kanzlerin. Sollte es da wirklich Spekulationen gegeben haben, dass da irgendeine andere Frage gestellt worden sein könnte? Vielleicht die nach der Farbe des aktuellen Blazers von Frau Merkel? Oder danach, ob die Kanzlerinnenhände auch zu einer anderen Haltung als einer Raute in der Lage sind?
Auch schön: Ein Internetartikel widmet sich einer Werbung für Damenrasierer. Die Überschrift: "Diese Werbung zeigt Frauen, die tatsächlich Körperhaare wegrasieren." Ein US-Unternehmen zeigt in seiner Werbung erstmals, dass sich Frauen dort rasieren, wo auch Haare sind und die Geräte nicht über Körperstellen schubbern, die glatt sind wie ein Kinderpopo. Irgendwie ist heute ein haariger Tag...

© Bernd Kasper/pixelio.de
Ich werde mich auf jeden Fall zusammenreißen und das Wort da vermeiden, wo es total sinnlos ist. Der Mediziner Robert Koch hatte allerdings eine sinnvolle Verwendung als er sagte:

Wenn ein Arzt hinter dem Sarg seines Patienten geht, folgt manchmal tatsächlich die Ursache der Wirkung. 
Er wusste, wovon er sprach. 😉

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