Immer schön die Nerven behalten?

Ich bin heute zufällig auf einem Blog gelandet, auf dem ein Kolumnist einer großen deutschen Wochenzeitung zitiert wurde. Das Zitat ist schon vor einigen Jahren in einer seiner Kolumnen veröffentlicht worden und wird nach meinem ersten Eindruck seitdem durchs Internet gereicht - bis heute. Die letzte Spur findet sich bei Instagram. Mein erster Impuls war Verärgerung, weil es mir grundsätzlich gegen den Strich geht, Dinge über einen Kamm zu scheren. Der zweite: was für eine Arroganz! Weiß der Mann, wovon er redet und wen und was er da mit einem hingeklatschten Satz verurteilt?
Der Satz, um den es geht, heißt: "Die Leute sagen, sie können ihre alten Eltern nicht pflegen – aber sie pflegen fast alle irgendwo eine Homepage, wie moralisch krank ist diese Gesellschaft eigentlich?" Okay, man kann jetzt sagen, dass er diese Äußerung schon vor längerer Zeit gemacht hat und heute seine Meinung hierzu geändert haben könnte. Aber sie wird von denen, die sie weiter teilen, ganz überwiegend positiv kommentiert im Sinne von "Genau so ist es!".

Seit damals wird die Zahl der Homepages und allem anderen, was mit dem Internet zu tun hat, zugenommen haben. Bei den meisten Menschen hier wird das beim zeitlichen Aufwand dafür ebenso sein. Das Pflegen der Homepage kann zeitraubend sein, die Pflege der Eltern ist es aber noch viel mehr. Wer spontan sagt: "Selbstverständlich werde ich meine Eltern pflegen, wenn es nötig ist!", sollte die Situation realistisch einschätzen. War das Verhältnis zu den Eltern positiv oder schwangen immer Konflikte mit? Wie angewiesen ist man auf Bestätigung und Anerkennung? Diese Frage mag auf den ersten Blick unwichtig oder sogar egoistisch erscheinen, aber wer sich tagein tagaus um einen ständig unzufriedenen Pflegebedürftigen, der seine Launen ungebremst an Tochter oder Schwiegertochter (es sind ja nun mal fast immer Frauen, die zu Hause pflegen) auslässt, kümmert, braucht von irgendwoher Zuspruch und Motivation, damit die Seele nicht eintrocknet wie eine Backpflaume. Es ist nun mal ein riesengroßer Unterschied, ob der Pflegende zum Pflegebedürftigen eine (positive oder negative) emotionale Verbindung hat oder ihm professionell wie eine Berufspflegekraft gegenübersteht.

Bestimmt haben sich manche, die die Pflege eines Angehörigen irgendwann guten Mutes übernommen haben, nicht vorstellen können, was eine ständige Überforderung, deren Ende nicht absehbar ist, aus ihnen machen kann. Die gemeinnützige Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) hat sich mit dem Thema beschäftigt, wie viel Gewalt sich in der häuslichen Pflege abspielt. Danach werden in Deutschland von den drei Millionen Pflegebedürftigen 1,4 Millionen zu Hause von Angehörigen betreut. Die befragten pflegenden Angehörigen waren zwischen 40 und 85 Jahre alt und kümmerten sich seit wenigstens einem halben Jahr mindestens einmal pro Woche um einen Pflegebedürftigen, der nicht jünger als 60 Jahre war. 45 Prozent der Gepflegten berichteten von psychischer Gewalt, die sie durch ihre pflegenden Angehörigen erlitten haben. Anschreien oder abfällige Bemerkungen gehören dazu. So etwas getan zu haben, gaben immerhin noch 32 Prozent der Pflegenden an.
Von körperlicher Gewalt gegen sie berichteten 11 Prozent der Pflegebedürftigen, 12 Prozent der Pflegenden gaben an, gewalttätig geworden zu sein. Und da die Pflegebedürftigen die Fragen des ZQB beantworten konnten, gehe ich davon aus, dass sie - wenn überhaupt - nur unter einer schwach ausgeprägten Demenz litten. Jemanden mit einer starken Demenz zu pflegen, ist da noch eine ganz andere Hausnumer.

Ich vermute, dass diese Zahlen nicht das widerspiegeln, was sich hinter den Haustüren abgespielt hat. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Scham über das eigene Verhalten bei so manchen pflegenden Angehörigen zu groß war, um ehrlich zu antworten. Umgekehrt halte ich es auch für ziemlich wahrscheinlich, dass die befragten Pflegebedürftigen das eine oder andere Mal mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten haben, weil sie anderenfalls das Gefühl gehabt hätten, ihren Angehörigen "in die Pfanne zu hauen".

Wer da ernsthaft die Entscheidung, die Pflege der Eltern zu übernehmen, mit der Pflege einer Homepage gleichsetzt und mit der Moralkeule gegen alle ausholt, die sich für eine andere Lösung entscheiden, dem ist nicht mehr zu helfen. Jeder sollte seine Möglichkeiten und Grenzen kennen und seine Entscheidungen entsprechend treffen. Das Thema eignet sich nicht, um für eine Kolumne ein Wortspiel zu fabrizieren, das noch jahrelang weiter verbreitet wird.
Das Internet vergisst nichts - ein Grund mehr, als Journalist noch genauer zu überlegen, was man wie formuliert.

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